In der Stadt gab es Leute, die konnten sich noch daran erinnern, dass früher zu Weihnachten viel öfter Schnee gelegen hatte. Doch das war lange her. Stattdessen hatte man sich darin geübt, selbst im Nieselgrau ein wenig Weihnachtsstimmung aufkommen zu lassen. Man hängte großzügig beleuchtete Girlanden über die Einkaufsstraßen und Lichterketten an die Häuser, die Schaufenster der Läden waren mit Watteschnee dekoriert, und im Supermarkt gab es Spekulatius im Angebot.
Nur noch zwei Tage trennten die Menschen vom Heiligen Abend. Und es gab noch viel zu tun.
Auch im örtlichen Krankenhaus am Rande der Stadt bereitete man sich auf diese besondere Zeit vor. Die Hausmeister hatten einen großen Adventskranz in der Eingangshalle aufgehängt, an dem bereits alle vier Elektrokerzen rhythmisch vor sich hin flackerten. Und neben der Portiersloge stand ein Teller mit Keksen und Mandarinen, von dem jeder sich bedienen durfte. Die Dame im Kiosk trug ein lustiges Rentiergeweih, das immer bimmelte, wenn sie den Kopf bewegte, und der Chefarzt hatte die Belegschaft für sechzehn Uhr zu einem kleinen Umtrunk gebeten.
Im zweiten Stock lag indes eine ältere Dame in Zimmer 209. Man hatte sie am Tag zuvor eingeliefert. Ihr Name war Maria Lindhorst, und sie wohnte imSeniorenheim Möwenstrand, nicht weit entfernt von der Klinik und nur eine halbe Stunde von der Hamburger City entfernt.
Soeben öffnete Maria Lindhorst die Augen.
Das diffuse graue Morgenlicht von draußen mischte sich mit der summenden Nachtleuchte über ihrem Kopf. Etwas piepte neben ihrem Bett. Ein anderes Etwas klemmte an ihrem Mittelfinger. Es hatte ein Kabel, das zu einem Gerät auf einem Ständer führte. Gelblich weiße Bettwäsche.
Das Nachthemd kannte sie nicht. Wer hatte sie ausgezogen? Wie war sie hierhergekommen? Sie erinnerte sich nur noch daran, dass ihr beim Spazierengehen übel geworden war. Dann Schwärze.
Gegenüber ihrem Bett entdeckte Maria ein hölzernes Kreuz. Darunter hing ein gerahmter Sinnspruch, den sie ohne ihre Brille nicht lesen konnte. Vom Flur hörte sie Geschirrklappern und Stimmen. Außer ihrem Bett gab es kein weiteres im Zimmer. Sie war allein.
Allein? Nein, nicht ganz.
Auf einem Stuhl am Fenster lümmelte eine Gestalt. Erst glaubte Maria, sie täusche sich, aber dem war nicht so. Dort saß tatsächlich ein Mann. Marias Blick ging von seiner Lockenpracht auf dem Kopf zu den blauen Augen und einem struppigen Vollbart hin zum weißen Nachthemd, welches ihm bis knapp über seine Knie reichte. Darunter lugten zwei haarige Beine hervor, die er übereinandergeschlagen hatte. Die Füße zierten zwei aufwendig gesteppte weiße Cowboystiefel mit Metallkappe an den Spitzen. Fragend sah Maria den Mann an, der sie seinerseits neugierig a