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Knochenzäune
Auf einer Inselfähre, irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland, gibt es einen, der die Leinen los- und festmacht, und immer ist er zu dünn angezogen für die Salz- und Eisenkälte eines Nordseehafens. Falls er an Herbst- und Wintertagen eine Mütze trägt, bedeckt sie keinesfalls die Ohren. Handschuhe trägt er nie. Zwischen seinen steifen Fingern klemmt, sobald das Schiff an- oder abgelegt hat, eine Kippe. Sein Haar ist lange nicht geschnitten worden, seine Haut von Meerwasser und Alkohol gebeizt, und immer hustet er in seinen ungekämmten Bart und spuckt das, was da hochgehustet wird, ins Hafenbecken. Und immer sieht die Jacke, die er trägt, so aus, als hätte sie den Ahnen schon gehört.
Der Mann, der Leinen los- und festmacht, ist nie freundlich zu den Fremden, die vom Festland auf die Insel fahren. Mit schroffen Gesten weist er beim Verladen ihre Wagen in die Spuren, treibt mit knappen Kopfbewegungen die Fahrradfahrer und die Fußgänger aufs Schiff, die sich wie Schafe von ihm scheuchen lassen.
Der Decksmann friert aus einem Grund, den er wohl selbst nicht kennt. Er tut nur das, was schon die Vorbesitzer seiner Jacke taten: das kleine Frieren üben, weil irgendwann das große Frieren kommen wird. Der große Sturm, die große Flut oder die eine große Welle. Wer dann nicht frieren kann, ist schon verloren.
Und, ja, auch schwimmen kann der Mann an Deck, auch wenn es von den Seeleuten von jeher heißt, sie wollten es nicht lernen. Er hat es früh gelernt, von seiner Mutter.
Dass Festlandfrauen sich in ihn vergucken, kennt er schon. Dass sie ein bisschen in den wilden Bart verliebt sind, in seine alte Seemannsjacke und in den kleinen Ring aus Gold in seinem Ohr, das will er doch stark hoffen.
Für die Dauer einer Überfahrt, für eine Stunde oder zwei, ist er das Standbild eines Inselmannes. Steht an Deck, macht Leinen fest und los und lässt die Messingknöpfe mit dem Ankermuster glänzen. Übt das Frieren, pfeift ein altes Lied. Und Winde wehn.
Sein Vater, seine Brüder, seine Onkel frieren jetzt vielleicht auf einem Krabbenkutter, einem Frachter, einem Seenotrettungskreuzer, einem Ausflugsdampfer, einer Bohrinsel, und alle halten klaglos eine kleine Unterkühlung aus, als müssten sie den Vorfahren Respekt bezeugen.
Sie alle sind die Nachkommen von Männern, die das große Frieren noch beherrschten: Grönlandfahrern, die auf Walfangschiffen in die Arktis segelten.
Und etwas hat sich eingedrückt und auf sie abgefärbt, ist in sie eingesickert von diesen Schiffsjungen und Harpunierern, Steuermännern, Kapitänen, die jedes Jahr vom Frühjahr bis zum Herbst ins Nordpolarmeer fuhren, ihre Kleider niemals trocken, ihre Körper niemals warm.
Irgendetwas in dem Mann, der zu dünn angezogen ist, erinnert sich an diese Zeit, auch wenn sie schon dreihundert Jahre her ist.
Vielleicht steckt es in den Knochen seiner rot gefrorenen Hand, in seinen Rückenwirbeln, in der Haut auf seiner Stirn, in seinen Blutgefäßen, in den Wurzeln seiner Zähne, seines Bartes.
Und vielleicht glauben das auch alles nur die Fremden, die vom Festland kommen und ihn auf der Fähre stehen sehen, das Original, den waschechten Insulaner, der sie kaum eines Blickes würdigt.
Der Mann, der wortlos seine Gästeherden auf die Inselfähre treibt, ist unter Deckenbalken aufgewachsen, die so niedrig waren, dass er mit fünfzehn schon den Kopf einziehen musste. In einem Haus mit alten Mauerankern und mit Delfter Fliesen an den Wänden.
Der Vorfahr, der es bauen ließ, war noch zwei Handbreit kleiner als die Inselmänner heute, aber ein Großmeister des Frierens: mit zwölf das erste Mal an Bord und dann ein Seemannsleben lang den Sommer nicht gesehen. Vom Kombüsenjungen hochgefroren bis zum Kapitän.
Er baute sich ein großes Haus, ließ sein