3.
Eine graue Wolkendecke hing am Himmel über der Autolawine, die mit einem monotonen Rauschen über den Asphalt donnerte. Als Lina frühmorgens in den Bus stieg, war er fast noch leer. Vorne saß ein Großmütterchen mit krausen Löckchen, hinten ein Typ mit Kopfhörern im Ohr, aus denen laute Hip-Hop-Musik wummerte, dazwischen ein altes Ehepaar mit bunten Plastiktüten auf dem Boden.
Lina kaufte ein Ticket in die Stadt und schlingerte durch den Gang, als sich der Bus mit einem Kreischen in Bewegung setzte. Die Busfahrerin nahm die nächste Kurve so scharf, dass ein herankommendes Auto zum Bremsen gezwungen wurde und wütend hupte. Lina schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich auf einen freien Fensterplatz zu retten.
Jede Haltestelle war voller wartender Menschen. Immer mehr drängten in den Bus. Braun gebrannte und großzügig geschminkte Frauen mit großen Brüsten und billigen Klamotten; unrasierte Gesellen mit fettigen Haaren, die nach Schweiß und Tabak stanken; kreischende Schulkinder mit überdimensionalen Rucksäcken und grellbunten Pokémon-Karten; gelangweilt dreinschauende Jugendliche mit teuren Smartphones, die glaubten, das Geheimnis des Lebens bereits zu kennen. Lina liebte es, die Leute verstohlen zu beobachten. Ihre unterschiedlichen Lebensweisen faszinierten sie.
Ab und zu schweifte ihr Blick aus dem Fenster, doch da gab es nicht viel Aufregendes zu sehen. Vor dem Fenster erschien die Fahrschule »Dalli Dalli«. Ein Obstgeschäft. Ein Nachtklub und eine Spielhalle. Energieeffiziente Wohnhäuser reihten sich an heruntergekommene Absteigen mit kaputten Treppen. Ein riesiges Werbeplakat hing neben einer roten Ampel. Darauf war ein lächelnder Mann zu sehen, der Lina mit einem Glas Weizenbier in der Hand zuprostete. Das Bier erstrahlte in leuchtenden Farben, doch als sie genauer hinschaute, konnte sie erkennen, wie der obere Rand des Plakats langsam abblätterte.
Irgendwann erreichte der Bus das Stadtzentrum, einer ästhetischen wie architektonischen Bankrotterklärung. Wo sich früher noch vermehrt Fachwerkhäuser mit verspieltem Fassadenschmuck in verwinkelten Gassen befunden hatten, ragten nun potthässliche Nachkriegsbauten aus den 50er-Jahren in die Höhe, die einst in Rekordtempo aus dem Boden gestampft worden waren und jetzt aus Gründen des Denkmalschutzes vor dem verdienten Abriss bewahrt wurden.
Eilig stieg Lina aus dem Bus. Zum Glück trug sie ihre Brille mit den gelb getönten Gläsern, die das Elend in ihrer Umgebung etwas sonniger in Szene setzten, getreu dem Motto des Schriftstellers Alexandre Dumas: »Das Leben ist bezaubernd. Man muss es nur durch die richtige Brille sehen.«
Ohne sich also allzu sehr von der Tristesse ihrer Umgebung belästigen zu lassen, steuerte sie gezielt das nahe gelegene Universitätsgelände an, das wie eine große Betonwüste vor ihr lag, vorbei an allerlei bunten Aushängen für Lerngruppen, hippe Partys, Wohnungen im Mini-Format und Möbel aus dritter Hand.
Sie passierte eine graue Betonwand, auf der jemand »Fick die Eliten!« verewigt hatte und trat in ein farbloses Gebäude ein, in dem im Treppenhaus der Asbest von der Decke bröckelte.
Als sie die schwere Glastür zum Wartebereich des Akademischen Prüfungsamtes öffnete, musste sie aufgrund der sich darbietenden Absurdität an sich halten, um nicht laut loszulachen. Obwohl die reguläre Sprechzeit noch nicht einmal begonnen hatte, warteten mindestens 30 Studenten zusammengepfercht in dem kleinen Raum. Da die wenigen Klappstühle belegt waren, begnügten sich die restlichen von ihnen damit, an der Wand angelehnt herumzustehen oder auf dem dreckigen Boden auszuharren.
Lina seufzte, ging zum Anmeldeautomaten, drückte auf den grünen Knopf und riss einen kleinen rosa Zettel mit der Nummer 635 ab. Damit gesellte sie sich zu den anderen auf den Boden und vertrieb sich die Zeit damit, die Leute in ihrer Umgebung aus den Augenwinkeln zu betrachten. Die Studenten saßen da wie benommen, als hätte jemand ihre Lebenskraft ausgesaugt, gähnend und mit winzigen Augen. Die meisten nahmen die Warterei stumm hin, starrten in ihre Wasserflaschen, wi