6. Erste Begegnung
Ende September reiste Michael endgültig an, am 1. Oktober begann er in der ›Prinzhorn-Klinik‹. In der ersten Woche machte sich Michael mit seiner Arbeit und Umgebung vertraut. An seinem Schreibtisch fühlte er sich bald zu Hause. Die Ansprüche, die an ihn gestellt wurden, waren leicht zu erfüllen. Nebenbei erhielt er ab und zu Anrufe von seinem Vertreter bei ›Heim-Backwaren‹. Ganz unersetzlich schien er doch nicht zu sein, dennoch spürte er, dass Jürgen Brandt so gut es ging für ihn einsprang.
Die ›Prinzhorn-Klinik‹ hatte ihren Namen nach dem Psychiater Hans Prinzhorn erhalten, der sich speziell mit Malereien von Geisteskranken beschäftigt hatte. Im Trakt der chronisch Kranken befanden sich Patienten mit verschiedensten Schizophrenien in leichten Formen. Im Akutbereich lagen, wie ihm Direktor Baumüller schon erzählt hatte, Patienten mit Depressionen. Malerei, allerlei Handfertigkeiten und diverse Sportangebote bildeten die Grundlage der Behandlung. Dann gab es noch eine kleine Krankenstation, auf der die Patienten behandelt wurden, wenn sie beispielsweise eine fiebrige Erkältung hatten und intensivere Betreuung brauchten.
Michael wurde dem Chefarzt Doktor Weingarten vorgestellt, einem attraktiven Mann Mitte vierzig. Zug um Zug lernte er die Mitglieder des Personals kennen, vom Reinigungsdienst bis zur Krankenschwester. Im großen Speisesaal gab es keine Abgrenzung zwischen Personal und Patienten, wenn auch einige Patienten unter dezenter Aufsicht standen.
Michael beobachtete Ulla aus der Ferne, sie kannte jeden und nahm ihre Mahlzeiten mit verschiedenen Leuten ein. Alle schienen sie zu mögen. Michael überlegte, wie er ihr am besten näherkommen könnte.
Nach acht Tagen hatte er immer noch keine Lösung gefunden. Michael telefonierte oft mit seiner Mutter und seinen Brüdern. Das gab ihm Kraft.
»Die größte Schwierigkeit besteht darin, ein unverfängliches Gespräch mit ihr anzufangen. Ich will auf keinen Fall, dass sie wieder davonläuft.« Michael hielt das Handy an sein Ohr und blickte aus dem Fenster. Der Blick auf das Meer war ungewohnt faszinierend für ihn, auch wenn es leicht regnete.
»Eigentlich kannst du nicht viel kaputtmachen.« Reggies Stimme im fernen Bernried klang aufmunternd. »Sieh es einmal so: Sie lebt seit viereinhalb Jahren in dieser Anstalt. Sie erinnert sich an nichts. Es ist bestimmt nicht ihr Wunsch, in diesem Zustand zu bleiben.«
»Momentan scheint sie zufrieden. Ich habe das Gefühl, dass ich womöglich schlafende Hunde wecke. Was ist, wenn sie ihre Amnesie überwindet und danach verzweifelt ist?«
»Mit deiner Hilfe ist sie möglicherweise besser gerüstet, das Erlebte zu verarbeiten. Ohne Gedächtnis zu leben, muss für sie auch schlimm sein.«
»Ich fürchte mich vor dem ersten Kontakt. Wenn es schiefgeht, komme ich überhaupt nicht mehr an sie heran.«
»Mach dir nicht zu viele Gedanken, sei einfach du selbst. Rede mit ihr. Stochere nicht gleich in ihrer Vergangenheit herum. Sei ein Freund. Nach der Aufwärmphase kannst du immer noch erzählen, dass du sie von früher kennst.«
»Ja.« Michael legte seine Stirn an die kühle Fensterscheibe. »Vielleicht sollte ich vorher mit dem Arzt sprechen.«
»Nein! Auf keinen Fall!« Reggies Schnaufen brachte Michael zum Schmunzeln. »Was ist, wenn er es dir untersagt? Dann hast du nichts gewonnen, aber alles verloren. Möglicherweise benachrichtigt er Oliver und der verbietet dir das Umgangsrecht. Ihr Bruder spielt ohnehin eine dubiose Rolle in der Geschichte. Das weißt du selbst, sonst hättest du ihn längst angerufen.«
»Ja, trotzdem begreife ich es nicht. Ullas Mutter ist vor drei Jahren gestorben, zu diesem Zeitpunkt lebte Ulla bereits hier. Ich habe ihre Mutter kurz vor ihrem Tod besucht, sie sah zwar elend aus, war aber geistig komplett auf der Höhe. Sie wusste nicht, dass Oliver Ulla gefunden hatte. Sie meinte noch, sie freue sich darauf, Mann und Tochter im Himmel zu treffen. Also ging sie davon aus, dass Ulla tot sei.«
»Das bestätigt nur, dass du diesem Bruder nichts von deinem Aufenthalt auf Sylt erzählen darfst.«
»Mir ist völlig rätselhaft, warum er sich so verhält. Aber du hast natürlich recht, ich werde einfach nur versuchen, mit ihr zu spre