: Leonid Sachse
: Der deutsche Puls der Zeit - Ein Requiem auf den Dialog - Von Ausgrenzung, Heuchelei und neuem Militarismus
: Verlag DeBehr
: 9783987271113
: 1
: CHF 4.00
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 210
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Die Denkpest geht um.' So propagierte ein Nachrichten-Portal ganz offen. Medien und Politik erziehen zu unmündigen, braven Bürgern. Wo war all der geistvolle Glanz meiner Heimat abgeblieben? Leonid Sachse fühlt sich mittlerweile fremd in der eigenen Heimat und will schließlich das Land verlassen. Mit dem Zug reist er umher, steigt mehrfach um, doch kommt er nie ans Ziel. Auf seinen Irrwegen reflektiert er den gegenwärtigen Puls der Zeit. Ausgehend vom Hohelied des Dialogs zur Zeit der friedlichen Revolution verfolgt der Protagonist mitunter ironisch die letzten Jahrzehnte, die Corona-Zeit, aber auch neue Tabus, z. B. in der Kinderliteratur, das ruinöse Bildungssystem oder den Hass, der russischstämmigen Bürgern seit dem Krieg entgegenschlägt. Sachse, dem Sachsen, gelingt ein Blick hinter die Kulissen, er deckt so manche Heuchelei auf bei denjenigen, die Vielfalt lauthals propagieren und doch nichts anderes als auszugrenzen vermögen; dabei basieren Sachses Tatsachen auf realen Zeitungsmeldungen seriöser Presseorgane, die in ihrer erstaunlichen Dichte und Fülle die Widersprüchlichkeiten unserer Zeit sezieren. Ein Weckruf, geschrieben in ernster Sorge um unsere Demokratie und nicht zuletzt aus dem Bedenken heraus, dass der Friede in Europa bald einem ausufernden Krieg weichen könnte.

 

Lob den Rundungen, Wut den Grinsebacken


Ich steige aus, nein, vielmehr um. Der andere Zug hat Verspätung. Die Bahnhofstoilette ist nicht nur ein Ort basaler menschlicher Organfunktionen, sondern zugleich eine Stätte, an der die Errungenschaften des technischen Fortschrittes zelebriert werden. Münzeinwurf in den Automaten, dann öffnet sich die unüberwindliche Glasschranke, eine Werbewand mit dämlich grinsenden Gesichtern kommt näher, ich gehe dem Foto mit der attraktiven Blondine nach und lande auf der Damentoilette. Im richtigen Kabuff nachher kleine Fernseher über den Urinalen, Werbebilder wechseln im Rhythmus der kontraktierenden Blasenmuskulatur. Auf dem Boden Müll, die Wände beschmiert, ob allein von Farbstiften, bleibt unklar, die Toilettensitze will ich erst gar nicht schildern. Beim Hinausgehen kann ich an einem interaktiven Bildschirm auf Gesichtchen drücken, von lächelnd bis wütend. Man will wissen, ob ich mit dem Aufenthalt zufrieden war. Bewerten statt mit jemandem sprechen können. Statt Rückgrat aufbringen, um sofort die Meinung zu sagen, die neueste Mode heimlichen Kritikübens: im Restaurant, in der Cafeteria, im Zug, auf dem Klo genauso wie in den anonymen Kommentarfunktionen des Internets. Kommunikation wird so überflüssig und stattdessen trainiert man in subtiler Weise das Denunzieren. Und die am Urinal erlebte Verwahrlosung öffentlichen Raumes berichtet wortlos vom Zustand der Gesellschaft.

Da kommt der Anschlusszug: Rechtzeitig aufspringen, einen Sitzplatz ergattern, das Ziel ist verheißend, der Sommerfreuden versprechende Urlaubsort am Meer. Auch damals, vor über dreißig Jahren, stiegen wir um, stiegen ein in einen neuen Zug. Das alte Land ließen wir komplett hinter uns – es wurde abgewickelt. War je ein Staat rigoroser verschrottet worden, als der unsrige? Die Industrie verschwand, mit ihr vertraute Produkte und bewährte Alltagsgegenstände, die Wissenschaftsinstitutionen wurden aufgelöst, die Eliten in Verwaltung, Politik, Lehre und Forschung ausgetauscht, und mit dem kompletten Auswechseln verschwand die Geschichte, denn die Menschen traten aus ihrer eigenen heraus in die eines anderen Landes, waren zum Verschmelzen gezwungen mit dem, was den anderen integrativer Bestandteil ihres Seins war; so blieb ihrem Erlebten nur die Geschichtssendung im Fernsehen und der Feuilleton in den neuen, von Großkonzernen abhängigen Zeitungen vorbehalten, und die schrieben fortan, wie das Erlebte gewesen war.

Die Nacktbadestrände verschwanden ebenso rasant, wie die Erotikläden öffneten. Wie hatten noch in den 1980er Jahren die Nudisten Meter um Meter Strand erobert, bis den Verklemmten nur noch winzige Fleckchen vorbehalten waren! An den gelben Zeitungskiosken der Städte prangten weithin sichtbar Aktposter zum Kauf: eine schöne Frau und einen Kiosk weiter paritätisch ein schöner Mann. Jeder konnte sich demnach erfreuen, und wer sich unschlüssig war, kaufte beide oder legte sie von einer grellen Leuchtstoffröhre durchschimmert halt übereinander. Niemand nahm Notiz, niemand empfand dies als anstößig, genauso wenig wie die entblößte Statuen, Atlanten und Karyatiden zierenden Hausfassaden einer überkommenen ornamentverliebten Zeit. Nun plötzlich schämte man sich der Natürlichkeit, der Ästhetik des unbekleideten menschlichen Körpers; Nacktheit wurde sexualisiert und Tabu einer ständig nach Erregung und Empörung – die ja auch nur Ventil einer Erregung ist – heischenden Öffentlichkeit. Die Sexualisierung der Nacktheit ist vielleicht oberflächlich Prüderie, doch ging sie einher mit einer alle Lebensbereiche erfassenden Gewichtung äußerlicher Werte. Die Form dominiert den Inhalt. Nicht meine Persönlichkeit, mein Schaffen, meine Anschauungen räumen mir einen Platz in der Gesell