: Siegfried Obermeier
: Verlorene Kindheit Erinnerungen aus der Kriegszeit
: Rosenheimer Verlagshaus
: 9783475544996
: 1
: CHF 15.30
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 198
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Siegfried Obermeier hat sich als Autor von über 30 Romanen und Sachbüchern, meist historischen Inhalts, einen guten Namen gemacht. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Hier beschreibt er auf mitreißende Art und Weise ganz persönlich erlebte Geschichte: wie er mit der Naivität eines Kindes die schleichenden Anfänge des Zweiten Weltkrieges kaum wahrnimmt und nach den verheerenden Bombennächten 1943 erstaunt und gleichzeitig ergriffen die geschundene Heimatstadt München erkundet. Mit seiner Mutter verbringt der Autor später über ein Jahr im Freisinger Zufluchtsort, wo er jedoch den feindlichen Angriffen auf das Münchner Umland nicht entkommen kann. Nachdem ihm seine Kindheit rückblickend stets 'wie ein dunkler Vorhang' vorkam, zieht Siegfried Obermeier heute abschließend das Fazit, dass diese autobiographische Reise wertvolle Erinnerungen auftauchen lässt, welche er zuvor verloren geglaubt hatte.

Siegfried Obermeier wurde 1936 in München geboren und lebt heute in Oberschleißheim. Nach dem Gymnasium übte er kurz eine kaufmännische Tätigkeit aus, 25 Jahre war er im Rundfunk tätig, seit 1981 ist er freier Autor. In den 70er- und 80er-Jahren schrieb er zahlreiche Beiträge für Zeitungen, Zeitschriften und den Rundfunk. Seit 1972 hat er eine Reihe Bücher mit meist historischer Thematik veröffentlicht. Es entstanden Biographien, Sachbücher und Romane mit den Schwerpunkten Antike und Mittelalter, die seither in zahlreiche, vor allem slawische Sprachen übersetzt wurden. Siegfried Obermeier wurde mit der Littera-Medaille und dem Schleißheimer Kulturpreis ausgezeichnet.

1.
Geboren in »großer Zeit«


Den berühmten ersten Satz habe ich noch immer nicht gefunden – einen Satz, der den Leser hinreißen und neugierig machen soll und von dem angeblich so viel abhängt. Stattdessen erzähle ich etwas über meine Eltern. Meine Mutter – während ich das schreibe, steht sie im 94. Lebensjahr – hat es zeitlebens meinem Vater nicht verziehen, dass er sie hochschwanger allein ließ und – wie gewohnt – im Januar zum Skifahren ging. Freilich sind solche Berichte oft mit Vorsicht zu genießen, denn nicht selten stellen sie nur die halbe Wahrheit dar oder das, was der jeweilige Elternteil sich als Wahrheit zurechtgelegt hat.

Nun ist es aber so, dass ich vor einigen Wochen im Keller kramte und dabei auf einen Pappkarton mit Postkarten stieß, die meine Mutter – als Corpora Delicti? – getreulich aufbewahrt hat. Zum überwiegenden Teil handelt es sich um Nachrichten meines Vaters aus irgendwelchen Wintersportgebieten.

Am 21. Januar 1936, dem Tag meiner Geburt, schrieb mein Vater aus Bayrischzell:

»Bin gut, aber bei Nacht angekommen. Heute früh Schnee, aber nur 1 Meter. Nebel-Waschküche.«

Schon seltsam, dass ein werdender Vater einen Wetterbericht liefert, anstatt sich nach dem Zustand seiner Frau zu erkundigen! Aber warum habe ich ihn niemals danach gefragt? Bis zu seinem Tod im Jahr 1983 wäre dies möglich gewesen, doch für mich waren damals solche Dinge einfach kein Thema. Warum?

Das betrifft auch andere Bereiche. Heute würde es mich brennend interessieren, was mein Vater über Hitler und das Dritte Reich dachte, aber damals versäumte ich es, ihn danach zu fragen. Es ist halt so, dass ein Vierzigjähriger andere Fragen an sich und seine Umwelt stellt als ein fast Siebzigjähriger.

Zurück zu meiner Geburt am 21. Januar und zu dem Bericht meiner Mutter, die sich mit ihrem Sohn im Arm einsam und verlassen fühlte. Beim damaligen Stand der Nachrichtenübermittlung dauerte es drei Tage, bis mein Vater auf seiner Skihütte von meiner Geburt erfuhr. Man kann es sich heute nur noch schwer vorstellen, wie es war, als nur ganz wenige Menschen ein privates Telefon besaßen und nicht einmal die Autoren von Zukunftsromanen über die fantastischen Möglichkeiten von Mobiltelefonen schwadronierten.

So liegt jetzt die auf den 24. Januar datierte Postkarte meines im »Sudelfeldhaus« befindlichen Vaters vor mir.

»Ich gratuliere! Auf unseren Jungen (wenn die Nachr. stimmt) bin ich sehr sehr stolz. Als der Anruf kam, saß ich gerade im Hotel und ich war natürlich vollkommen überrumpelt. Das Glücks-Hufeisen habe ich schon ergriffen u. auf Euer Wohl angestoßen.«

Überrumpelt? Das klingt schon seltsam, wo er doch wusste, dass ich um diese Zeit auf die Welt kommen würde. Laut Bericht meiner Mutter konnte ihn auch dieses Ereignis nicht zum Abbruch seines Urlaubs bewegen, und als er mich zum ersten Mal sah, war dies bereits in unserer neuen Wohnung am Giesinger Berg. Erschwerend kam noch hinzu, dass meine Mutter ihn auf der »Vereins-Skihütte« vermutete, er aber im »Berghotel Sudelfeld« aufgespürt wurde. Warum dies?, so lautete ihre fast triumphierend hervorgebrachte – rhetorische – Frage. Weil er dort mit seiner Geliebten wohnte! Davon – ich meine von Geliebten im Allgemeinen – sollte im Laufe meiner Kindheit und auch später noch oft die Rede sein. Eines aber machte mich bei dem Fund der Karte stutzig: Mein Vater wollte offenbar nicht vortäuschen, auf der »Vereinshütte« zu sein, sonst hätte es nicht am 24. Januar geheißen: »… saß ich gerade im Hotel …«

Nun gut, es wird sich einfach vieles nicht mehr aufklären lassen, denn das Gedächtnis meiner Mutter ist – trotz sonstiger geistiger Klarheit&