: Dorothea Renckhoff
: Das Schattenveilchen
: Kulturmaschinen Verlag
: 9783967632675
: 1
: CHF 5.60
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 208
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der plötzliche Tod ihres Geliebten beraubt eine junge Frau aller persönlichen und beruflichen Zukunftsaussichten. Unerwartet findet sie Aufnahme im selben Stadtviertel, wo der Verstorbene aufgewachsen ist. Ein Stadtteil aus verwilderten Gärten, bröckelnden Mauern und freundlichen Sonderlinge. In der alten Villa des geheimnisvollen Morillon bewohnt sie ein Zimmer. Im Museum findet sie eine Anstellung. Und dort wird sie Zeuge einer mysteriösen Zerstörung, die sich unter den berühmtesten Gemälden in aller Welt auszubreiten beginnt: An Stelle gemalter Blumen klaffen dort verwischte graue Flecken wie von einem Säureattentat. Haben Morillons ständige Reisen damit zu tun. Und hat die Lilie auf dem Grab ihres Liebsten, die nicht welkt, etwas mit der Blüte zu tun, die aus der Hand des Verkündigungsengels verschwunden ist? Aber vor allem fürchtet sie die beiden unheimlichen Fremden, mit denen sie Morillons Haus teilen muss.

Als ich in die schmale Allee einbog, die den Eingeweihten mitten hineinführte in unser verborgenes Stadtviertel, sah ich den dicken Mann aus dem Museumscafé vor mir gehen. Er schwenkte ein Stöckchen im Rhythmus seiner Schritte, viel zu zart, um den gewaltigen Körper stützen zu können, und er trällerte mit seiner angenehmen Stimme vor sich hin, aber der Text war nicht zu verstehen, bis auf einzelne Worte, wie »Schlafcoupé« und »Paris«, und dann noch »Paradies«, doch schon hatte er sich zu mir umgewandt, »oh, die Anakonda!« rief er mir entgegen und wartete, bis ich ihn eingeholt hatte. »Es scheint, dass Sie Wohnung in unserem Viertel genommen haben«, sagte er dann, »ungewöhnlich … wir Andern sind fast alle seit Generationen hier ansässig«, und er schwenkte wieder sein Stöckchen und begann weiter zu gehen. Er zum Beispiel, fuhr er fort, lebe im Haus seines Vaters, drei Stockwerke Bücher, Noten, Autographen, er sei vollauf damit beschäftigt, seine Sammlung zu ordnen, und er stellte sich vor als Mendel van Schrieck, aber den Namen solle ich besser wieder vergessen, denn wenn ich ihn ausspräche, könne es sein, dass der Stuhl unter mir zusammenbräche, und damit blieb er an einer Gartenpforte stehen, ich solle ihn gern einmal besuchen, schloss er, er habe einen Aufzug einbauen lassen anstelle der Treppe, die er nicht mehr habe steigen können, jetzt trete man durch die Eingangstür ­direkt in den Fahrstuhl, und grüßend hob er das Stöckchen und wollte im Garten verschwinden.

Aber dann wandte er sich noch einmal um zu mir, ich solle mich vor den Kinderschleppern hüten, sagte er, und da er mir ansah, dass ich nicht begriff, was er meine, fügte er hinzu, was ich denn glaube, was in deren Taschen sei? Was in den Beuteln greine, das seien keine Kätzchen … Ob ich nicht neulich die Garderobe angenommen habe? »Hüten Sie sich«, wiederholte er, sehr eindringlich, »sie kommen näher«, und er grüßte noch einmal mit dem Stöckchen. Ich hörte ihn wieder vom Schlafcoupé singen, während er auf die Villa zustrebte, und mir wurde klar, dass seine Worte nur die Bedrohung benannten, die ich selbst gespürt hatte. Seit der Ankunft der beiden Fremden in Morillons Haus stieg sie auch dort aus dem Keller auf und breitete sich wie Rauch im ganzen Gebäude aus. Wie Rauch, oder wie ein giftiger Nebel.

Van Schriecks Geträller klang mir weiter im Ohr, und ­einen Augenblick lang fragte ich mich, ob es einen Grund gab, dass er in der Allee ausgerechnet dieses Lied ge­sungen hatte, während ich mich in Hörweite befand. Denn ­immer, wenn ich in meinem Zimmer in Morillons Haus in das große Bett mit den grünen Vorhängen stieg und zwischen Kissen und Decke mein Nest fand, glaubte ich, an meinem Gesicht die Brust von András zu spüren und um uns und in uns das Schwanken und Wiegen des Schlaf­wagens mit seinen plötzlichen Erschütterungen.

Im ersten Moment war es ein Trost, und wenn ich sehr müde war, hatte ich das Gefühl, ich schliefe an der Seite von András ein. Aber jedes Mal gelangte ich an den Punkt, wo mein Schlaf zerbrach, ohne ein Geräusch von außen oder sonst eine Störun