: Dietrich Brüggemann
: Materialermüdung
: Edition W
: 9783949671531
: 1
: CHF 8.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 480
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Als Jacob und Maya von Jacobs Vater aus seinem Garten herausgeworfen werden, ahnen sie noch nicht, dass dies der Anfang vom Ende ist - vom Ende ihrer Beziehung, aber auch vom Ende der Welt. Gemeinsam mit ihrem Freund Moses navigieren sie einen Herbst lang durch die Untiefen eines Lebens zwischen Kulturszene, Social Media, künstlicher Intelligenz und postmoderner Ellbogengesellschaft. Doch spätestens, als Moses sich auf Twitter anmeldet, um dort seine verschollene Schwester zu suchen, wird deutlich, dass das Leben der drei Freunde sich mehr verändern wird, als sie es ahnen. Denn die geplante Obsoleszenz, aufgrund derer heute jedes Gerät nach vier Jahren den Geist aufgibt, hat schleichend die ganze Welt befallen, und eine große Materialermüdung breitet sich aus. Also kämpfen die drei in einer zerfallenden Welt um das, was ihnen wichtig ist: Ihre Freundschaft, ihre Familien, ihre Liebe - und die Menschheit, die sich stets Geschichten vom eigenen Untergang erzählt und sich darin immer wieder neu erfindet. Materialermüdung, der furiose Debütroman von Dietrich Brüggemann, lebt von tiefgründigem Humor, einer markanten Figurenzeichnung sowie dem feinen Gespür für die Höhen und Tiefen des Zeitgeistes. Der Musiker und Filmemacher zeigt mit seinem ersten Roman, dass er nicht nur auf Zelluloid ein großer Erzähler ist, der dem Irrsinn unserer Zeit mit Scharfsinn, Witz und gewaltigem erzählerischen Tempo beikommt.

Dietrich Brüggemann, geboren 1976 in München, ist Filmemacher, Musiker und Autor. Aufgewachsen in Deutschland und Südafrika, Regiestudium an der Babelsberger Filmhochschule. Erster Spielfilm"Neun Szenen", danach"Renn, wenn du kannst" und"3 Zimmer Küche Bad", der zum langlaufenden Geheimtipp wurde. Zuletzt"Nö", der den Preis für die beste Regie beim Festival in Karlovy Vary erhielt. Regisseur vieler Musikvideos, Komponist der Musik für alle seine Filme, Gründer der Band"Theodor Shitstorm", gemeinsam mit Desiree Klaeukens. Brüggemann lebt in Berlin.

2 Segnung


600 Kilometer südwestlich und 40 Jahre vor dieser Begebenheit lag eine Frau unter einem Mann in einem Bett. Die 70er Jahre gingen dem Ende entgegen. Die Frau hieß Gisela, war 29 Jahre alt, hatte dunkelblonde, leicht gelockte Haare, braune Augen sowie eine Stupsnase und studierte Sozialpädagogik im elften Semester. Ihr Lebensgefährte hieß Günther, war 35, hatte ziemlich viele verschiedene Dinge studiert, zuletzt Deutsch und Geschichte auf Lehramt, und absolvierte derzeit das Referendariat an einem Gymnasium in Kassel. Der Mann, der in diesem Moment auf Gisela lag, war jedoch nicht Günther und sah auch nicht so aus, als würde er Günther heißen. Gisela und Günther führten eine Wochenendbeziehung, Günther wohnte in einem möblierten Zimmer in Kassel und Gisela in einer WG in Heidelberg. Sie organisierte mit ein paar Freunden einen studentischen Filmklub, in dem am Vorabend ein Film namensNicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt gezeigt worden war, und der Mann, unter dem Gisela jetzt lag, war der einzige Mann im Publikum gewesen, der nicht offensichtlich schwul oder offensichtlich von seiner Freundin zur Veranstaltung geschleppt worden war. Bei der Diskussion nach dem Film hatte der Mann nichts gesagt, aber seine Blicke wanderten immer wieder zu Gisela, ihr Blick konnte sich von seinem nicht lösen, und erst später war ihr klar geworden, was an ihm anders war als bei vielen anderen Männern: Er schaute ihr nicht auf die Brüste, er tastete ihren Körper nicht mit Blicken ab, er sah ihr einfach nur in die Augen.

Dass der Mann überhaupt zu dieser Veranstaltung gegangen war, war Teil einer Strategie. Es fiel ihm nicht leicht, Frauen kennenzulernen. Wenn er eine Frau attraktiv fand, dann hatte er sogleich die Angst, ihr damit zu nahe zu treten, ihr etwas aufzudrängen, das sie nicht wollte, und eine Ablehnung zu provozieren, die ihn wiederum im Kern seiner Seele treffen würde. In dem Land, aus dem er stammte, fühlte er sich damit allein auf weiter Flur, aber in dem Land, in dem er jetzt war, fühlte er sich noch auf ganz andere Art allein. Viele Frauen in diesem Land betrachteten ihn mit schlecht verhohlener Abneigung, als sei er aus minderwertigem Material gemacht. Andere fanden ihn aufregend, eben weil er anders aussah. In beiden Fällen fühlte er sich behandelt wie ein exotisches Tier. Ein etwas älterer Studienkollege, der aus demselben Land stammte, aber schon mit 14 nach Deutschland gekommen war, hatte ihm eines Abends den Rat gegeben:

»Soziologie ist schön und gut, aber da lernst du niemanden kennen. Die Frauen sind komplizierte Zicken, die Männer sind selbstgefällige Großmäuler, und die fangen dann miteinanderBeziehungen an, in denen sie sich das Leben zur Hölle machen, weil die Frauen eben Zicken sind und die Männer Großmäuler. Und wenn dann doch mal eine interessante Frau dabei ist, dann hat sie garantiert einen besonders schlimmen Männergeschmack. Also studier Soziologie, wenn du auf Soziologie stehst, aber wenn du auf Frauen stehst, dann mach was anderes.«

»Und zwar was?«

»Kunstgeschichte. Da sind die schönsten Frauen, und die Männer interessieren sich meistens nicht für die Venus von Botticelli, sondern den David von Michelangelo, wenn du weißt, was ich meine. Mach ein oder zwei Seminare Kunstgeschichte, notfalls im fünften Nebenfach.«

»Ich habe keinerlei Ahnung von Kunst«, hatte der Mann erwidert, »ich würde dort schwitzen und rot werden und mich als völligen Ignoranten entlarven.«

»Würdest du nicht. In Kunstgeschichte kannst du ein ganzes Studium absolvieren, ohne einen Funken Ahnung von der Materie zu haben.«

»Andere können das, ich könnte es nicht.«

Sein Kommilitone hatte geseufzt und gesagt:

»Du bist deutscher als die Deutschen. Dann mach Freizeitaktivitäten. Mach nicht Sport, da ziehst du immer den Kürzeren gegen irgendeinen Platzhirsch, und Mädels, die auf Sportler stehen, sind eh nicht unsere Zielgruppe. Orchester sind gut, aber da muss man halt ein Instrument spielen. Chöre, schwierig, da sind viele Frauen mit energisch