Main Data
Author: Ralf Rothmann
Title: Museum der Einsamkeit Erzählungen
Publisher: Suhrkamp
ISBN/ISSN: 9783518782156
Edition: 1
Price: CHF 27.00
Publication date: 05/19/2025
Content
Category: Contemporary literature (from 1945)
Language: German
Technical Data
Pages: 268
Copy protection: Wasserzeichen
Devices: PC/MAC/eReader/Tablet
Formate: ePUB
Table of contents

Um Würde oder ihr Fehlen geht es in diesen neun Erzählungen, in denen die Menschen sich bemühen, dem Ideal eines halbwegs gelungenen Lebens etwas näher zu kommen - oder doch am Ende nicht allzu zerknirscht dazustehen. Vom Alleinsein versehrt sind manche, »Engel auf Krücken«, die ahnen, dass es nicht unbedingt Flügel braucht, um über sich und die Umstände hinauszugelangen; Liebe würde schon genügen.

»Jede wahre, jede leuchtende Kurzgeschichte hat einen romanlangen Schatten«, schrieb Ralf Rothmann einmal und stellt es mitMuseum der Einsamkeit erneut unter Beweis. Ob er von dem »Budenzauber« eines kleinen Jungen erzählt, der während der Abwesenheit der Eltern den weinenden Bruder tröstet, oder von einer Dozentin, die ihre Mutter in ein Seniorenheim mit seltsamen Kratzspuren an den Türen gibt, ob er einen Handlanger an der Seelenkälte der Maurer oder einen Pfarrer, dessen Tochter stirbt, an Gott verzweifeln lässt - immer offenbart sich uns eine »Wahrheit hinter der Wahrheit«, was nicht zuletzt an der Spannkraft und der magischen Genauigkeit von Ralf Rothmanns Sprache liegt.



Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Er lebt seit 1976 in Berlin.
Table of contents

Normschrift


Fast jeden Morgen wurde ich wach, bevor es in den Lautsprechern rauschte und knackte. Sehr leise erst, ein Wispern auf den langen Fluren und in den Waschräumen, kam die Musik von einem Endlosband und wurde jede Viertelstunde etwas lauter gedreht. Herr Pinnegg, der Hausmeister, den alle Pillek nannten, hatte die Stücke selbst aufgenommen, eine Mischung aus Schlagern und softem Pop, und es war unüberhörbar, dass er Dusty Springfield mochte, einen Star seiner Jugend. Bis zum Arbeitsbeginn auf der Schulbaustelle um halb neun hörte man mindestens drei Mal »Son of a Preacher Man«, »I Just Don't Know What to Do with Myself« oder »Just a Little Lovin'«.

Die keuschen Kleider und Betonfrisuren der Sängerin fand ich immer zum Wegsehen, aber ich mochte die Stimme mit dem zarten, leicht aufgerauten Silberrand gern. In jenen Wochen hatte sie etwas mit dem Duft der Brötchen auf den Tischen des Speisesaals zu tun, mit den durchsonnten Honiggläsern und dem heißen Kaffee in Zweiliterkannen, und sie war in den morgenmüden Bewegungen der Köchinnen und dem Wiegen der Pappeln am Horizont. Vor allem aber klang sie nach dem Rauch der ersten Zigarette.

Zu Hause wachte ich kaum je einmal vor dem Rasseln des Weckers auf; oft hörte ich ihn gar nicht, und dann klopfte meine Mutter an die Tür, wobei sie den Ringfinger benutzte, ihren scharfkantigen Achat. An den Wochenenden schlief ich mindestens bis zum Mittagsläuten von Sankt Jakobus, durchwachte die Nächte lesend oder zeichnend, übersetzte mir die Songs meiner Lieblingsbands mit dem Wörterbuch und ging erst im Morgengrauen wieder ins Bett. Doch auf der Schulbaustelle, die alle Lehrlinge jedes Jahr ein paar Wochen lang absolvieren mussten, war das anders.

Hier, in einem ehemaligen Karmeliterkloster am nördlichen Rand des Ruhrgebiets, wo an die hundert zukünftige Maurer, Betonbauer, Zimmerer und Schlosser in Vierer- oder Sechserzimmern untergebracht waren, hatte man bis zum Verlöschen des Lichts um Mitternacht keine ungestörte Minute. Jeder betrat fraglos jedes Zimmer, die Duschen waren ein einziger großer Raum, die Klokabinen hatten nur brusthohe Wände mit Pendeltüren, und lärmende Kassettenrekorder, brüllende Skat-Runden oder Flur-Schlägereien wegen des Fernsehprogramms waren das Normale. Und wenn man dann ins Bett sank und glaubte, endlich schlafen zu können, kriegte man noch ein »Gute Nacht!« der besonderen Art und griff in irgendetwas Feuchtes, Klebriges oder Stacheliges unter dem Kissen.

Die einzige Chance, Ruhe zu haben und wirklich für sich zu sein, gab es folglich am frühen Morgen, vor dem Arbeitsbeginn. Wie spät ich in der Nacht auch zum Schlafen gekommen sein mochte – sobald ein Hauch von Dämmerung hinter den Vorhängen zu ahnen war, wurde ich ohne jeden Wecker wach, raffte meine Kleider, Schuhe und Reclam-Hefte zusammen und stahl mich aus dem Zimmer, das ich mit drei anderen Maurerlehrlingen teilte. Unter den nackten Füßen waren immer Sandkörner zu spüren, und während ich mir im Waschraum die Zähne putzte, schaute ich über die Dächer der Theorie-Baracken zum Horizont, wo das frühe, von Vögeln durchzuckte Licht die weiße Wand des Autokinos überglühte.

Und dann freute ich mich auf die ungestörten Stunden im Speisesaal, die vor mir lagen, auf das Alleinsein mit der Zeitung oder den Erzählungen von Tschechow und auf den heißen Kaffee. Denn auch wenn offiziell ab sieben Uhr geweckt wurde, kamen die meisten erst um kurz vor halb neun aus den Federn, kippten eine Tasse des mittlerweile lauen Kaffees im Stehen hinunter, belegten sich zwei Brötchen und gingen mampfend über den großen, von Materialschuppen und Silos umstellten Hof zu ihrem Werkstück, einer halb eingeschalten Kragplatte etwa, einem gemauerten Spitzbogen mit Rosette, einer Wendeltreppe ins Blaue hinauf.

Die Lehr- oder Schulbaustelle Wildruff war eine Einrichtung der Industrie- und Handelskammer und verdankte sich wohl der immer häufigeren Verwendung von Fertigteilen und dem dauernden Zeitdruck auf dem Bau. Was man unter solchen Bedingungen längst nicht mehr lernte, sollte wenigstens einige Zeit im Jahr praktiziert werden, denn es gehörte zum Berufsbild des Handwerkers, und manche Prüfer fragten es ab. Obschon die meisten Architekten Formsteine aus der Fabrik verplanten, mauerte man hier noch Konvexbögen oder komplizierte Kaminverbände mit Ziegeln im Normalformat. Obwohl man inzwischen alle Gewölbe, sofern sie nicht gleich aus dem Betonwerk kamen, mit Blechen oder biegbaren Sperrholzplatten einschalte, nagelte man die Hohlformen hier noch aus konischen Leisten zusammen, Zentimeter für Zentimeter, tagelang. Und auch wenn es kaum mehr Dächer mit Dachreitern oder Fledermausgauben gab, wurden sie in Wildruff gezimmert und verschindelt wie vor hundert Jahren.

Die Schulbaustelle, auf der nachmittags sogar Kuchen serviert wurde, war für die meisten eine Erholung: Man arbeitete nicht mehr mit der Uhr im Nacken und konnte sich unterstellen im Regen; man musste nicht mehr durch jeden Dreck kriechen, nur weil man Lehrling war, es gab keinen Akkord, keine Überstunden und keine brüllenden Poliere. Allein die Qualität der Werkstücke zählte, die Genauigkeit oder auch Schönheit ihrer Ausführung, von geduldigen Meistern überwacht, und ich war sicher nicht der Einzige, der in Wildruff zum ersten Mal so etwas wie Handwerkerstolz fühlte.

An jenem Donnerstag Anfang August hatte ich in Erwartung des Wochenendes kaum ein Auge zugekriegt, was ausschließlich an Lynn lag, einer Schauspielschülerin an der Folkwangschule in Essen. Fast zwanzig, also gut drei Jahre älter als ich, hatte sie mich in der »Ampütte« angesprochen, einem Essener Lokal ohne Sperrstunde, in dem viele Theaterleute verkehrten, und obwohl wir jede Menge Bier und Wein tranken an dem Abend, brachte ich sie auf meinem Moped nach Steele, wo sie wohnte. Seit ich Lynn kannte, hörten sich die morgendlichen Songs von Dusty Springfield anders an; plötzlich waren irgendwelche Heimlichkeiten darin, das Rascheln von Nylonstrümpfen, endlose Knutschereien in Hauseingängen, ein atemloses »Nicht, nicht,nicht!«, und besonders in »I Close My Eyes and Count to Ten« klang mir die zärtliche Stimme wie vor Liebe entzündet.

Mit dem alten Mercedes-Cabrio von Lynns Vater wollten wir am Freitagnachmittag in die Eifel fahren, in das Ferienhaus der Familie bei Maria Laach, nur wir zwei, und der Gedanke, nach all den raschen Sachen auf der Parkbank oder im Kino in einem frisch bezogenen Bett mit ihr zu liegen und in aller Ruhe die Dinge zu tun, die Männer und Frauen in der Nacht zusammen machen, wieder und wieder, bis Montag früh, hatte mich um den Schlaf gebracht. Noch vor dem Sonnenaufgang schlurfte ich zu den Toiletten, stellte eine Stange Wasser in die Ecke und ging in den Waschraum, wo die Zahnputzbecher auf einem gekachelten Sims standen und an den Haken darunter die Handtücher hingen.

Normalerweise. Doch an dem Morgen lagen alle auf dem genoppten Steinboden, ein großer Haufen, aus dem ein dunkelblonder Schopf hervorsah; alle außer meinem, und ich knipste eine Lampe über den Spiegeln an. Socke, ein Betonbauer, der eigentlich Detlef Sobotta hieß, hatte es hängen lassen, und als ich mich über ihn beugte und ihm mit gekrümmtem Finger gegen die Stirn klopfte, schreckte er zusammen. Stift war er noch, also im ersten Lehrjahr, und die Angst in seinen großen Augen sah durch die Schlafbenommenheit irgendwie nackter aus, dramatisch fast. »Ach du«, keuchte er, setzte sich auf und rieb sich bibbernd die Schultern; dann sackte er gegen die Kachelwand. »Ich dachte schon, die Killer kommen.«

Er trug nur eine Turnhose und ein Unterhemd, und die Lücke, die seit einigen Tagen in seiner oberen Zahnreihe klaffte, ein Geschenk von Thersek, einem Maurerlehrling auf seinem Zimmer, ließ ihn etwas nuschelnder sprechen. Ich griff in den Haufen, befühlte die Handtücher; fast alle waren klamm. »Was soll denn das!«, sagte ich. »Hast du etwa die ganze Nacht hier auf den kalten Kacheln geschlafen? Brauchst du einen Krankenschein, oder bist du einfach nur bescheuert?«

Er gähnte, kratzte sich den Kopf mit beiden Händen. Fahl die Wangen, blutleer die Lippen, und sogar die selbstgestochenen Tätowierungen auf seinem linken Arm, gekreuzte Dolche und ein fast fertiges Herz, das wie eine Kartoffel aussah, wirkten blasser. »Ja, was konnte ich denn tun«, sagte er und schluckte hart; der große Adamsapfel an ...

 
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