Kapitel 1
Trauer
Wie ein Leichentuch hatten sich Nebel und Sprühregen über die Nebelinsel gelegt, und es war, als würden sie jedwedes Leben ersticken. Die Stimmung war ohnehin gedämpft. Erst vier Tage war es her, dass sie die Trauerfeier zu Ehren von Siah, einer jungen Nebelhexe, in dem kleinen Hain abgehalten hatten. Mit düsteren Gedanken saß Leána in dem Steinhaus ihrer Eltern an der Westküste und starrte in die Flammen des offenen Kamins. Winzige Feuergeister führten darin ihren Tanz auf, aber Leána konnte sich heute nicht daran erfreuen. Zu vieles ging ihr durch den Kopf. Wer hatte Siah, ihre beste Freundin aus Kindertagen, geschändet und grausam ermordet? Würde ihr Cousin Toran, der Thronerbe von Northcliff, ihr jemals verzeihen, dass sie ihn und Kayne dazu überredet hatte, mit ihr auf jene abenteuerliche Reise durch das Portal am Walkensee zu gehen? Sie wusste, sie hätte jetzt bereits bei Lharina sein und der jungen Elfenkönigin von dem Portal in der anderen Welt, in der Nähe von Glastonbury, erzählen sollen, doch sie war wie erstarrt. Beinahe hatte Leána das Gefühl, ein Teil von ihr wäre mit Siah gestorben. Kayne war ihr in den letzten Tagen ein guter Freund und eine große Stütze gewesen, und so war auch er es gewesen, der gestern über den magischen Eichenpfad ins Elfenreich zu Lharina gereist war, um der Elfenkönigin die Neuigkeiten zu überbringen. Ihr war klar, wie viel Überwindung ihn das gekostet hatte, denn er als Sohn des zwielichtigen Zauberers Samukal, der vor etwa zwanzig Sommern Albany beinahe ins Verderben gestürzt hätte, fühlte sich von anderen magischen Wesen und Zauberern nicht akzeptiert und misstrauisch beäugt – und mit dieser Einschätzung lag er leider nicht völlig falsch.
Umso dankbarer war Leána ihrem Freund, ihr den Weg zu den Elfen abgenommen zu haben. Vielleicht würde ja sogar die Kunde, die er zu überbringen hatte, für ein wenig Wohlwollen seitens der Elfen ihm gegenüber sorgen.
Wenngleich es in dem kleinen Wohnraum so nahe am Feuer warm war, zog Leána sich ihre Decke fröstelnd um die Schultern, als sie über Siah, Kayne und auch Rob nachdachte.
»Robaryon«, flüsterte sie, während sie noch immer in die knisternden Flammen starrte. Als sie seinen Namen aussprach, schienen die Feuergeister ihren Reigen etwas wilder auszuführen, doch das mochte auch täuschen.
Robaryon war jenseits des Portals zurückgeblieben. Sosehr sie ihn im ersten Moment vermisst hatte, Siahs Tod überschattete nun alles andere. Wie sich Asche auf junges Gras legt und es am Wachsen hindert, so hatte sich die grausame Tat auf ihrer Seele niedergelassen.
Leána hörte Schritte, kurz darauf öffnete sich die Tür. Ihr Vater kam herein, setzte sich neben sie auf die Holzbank, die mit weichen Daunenkissen bestückt war, und legte ihr ohne ein Wort den Arm um die Schultern. Dankbar lehnte sie sich an ihn, genoss Darians Trost und fühlte sich beinahe in Kindertage zurückversetzt. Sie se