: Holger Hof
: Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis Eine Biographie
: Klett-Cotta
: 9783608102154
: 1
: CHF 20.00
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 539
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Als Dichter und Prosaist zählte Gottfried Benn (1886-1956) zu den einflussreichsten Figuren der deutschen Geistesgeschichte, ein radikaler Modernist, ein genialischer Verächter seiner Zeit, ein Übervater der jungen Nachkriegsliteratur. Durch seine Parteinahme im 'Dritten Reich' kompromittiert, führte dieses 'gezeichnete Ich' ein spannungsreiches 'Doppelleben' zwischen dem unglamourösen Betrieb seiner Berliner Arztpraxis und den ekstatischen Höhenflügen der Literatur. Diese große umfassende Biographie Gottfried Benns berücksichtigt erstmals die Tageskalender des Dichters aus den 1940er- und 50er-Jahren und bislang unerschlossene Briefwechsel. So entsteht eine neue Sicht auf Gottfried Benn. Holger Hof hat die gesamte Forschung aufgearbeitet, seine Biographie ist wissenschaftlich auf dem neuesten Stand und wunderbar erzählt.

Holger Hof ist Herausgeber der letzten beiden Bände der Stuttgarter Ausgabe der Werke Benns. Er hat den Briefwechsel Benns mit dem 'Merkur' und die Korrespondenz zwischen Benn und Ernst Jünger herausgegeben. Hof lebt als freier Autor und Herausgeber in Berlin.

»Auftauchen, nur im Akt vorhanden sein und wieder versinken«1


Im Bonner Plenarsaal des Deutschen Bundestags zeigte die Uhr auf 3 Uhr 38, als Bundestagspräsident Dr. Eugen Gerstenmeier zur namentlichen Abstimmung die Stimmkarten einsammeln ließ. Zum letzten Mal in dieser Nacht verlas er ein Abstimmungsergebnis: Zwölf Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands galt die Wehrpflicht wieder für alle Männer zwischen achtzehn und fünfundvierzig – Westberliner ausgenommen.

An jenem Samstagmorgen des 7. Juli 1956, gut vier Stunden später, um 8 Uhr 5, starb nach schwerem Krebsleiden im Dahlemer Oskar-Helene-Heim, Clayallee 229 –233, Gottfried Benn. Der ein Meter neunundsechzig kleine, am Ende seines Lebens knapp über achtzig Kilo wiegende Berliner Sanitätsoffizier zweier Weltkriege, Dermatologe und Dichter zweier Phasen des Expressionismus, der so unendlich bedauerte, die Höhe des Blutdrucks von Goethe und Hölderlin nicht gewusst zu haben, »ob sie pyknisch waren u. zur Dicke neigten, ob sie Durst hatten, ob sie Bier oder Wein tranken, ob sie gut schliefen«,2 hatte am Ende seines siebzig Jahre währenden Lebens einen Blutdruck von 130/80 mmHg. Das Blutbild wies einen an der oberen Norm befindlichen Wert von 10 000 Leukozyten pro Mikroliter auf. Die letzte Blutsenkung war mit 34/64 mm deutlich erhöht. Der große Überlebende war tot.

 

Das Lebensschicksal ist ja nichts Äusseres u. kommt nicht aus der Umwelt auf uns zu, sondern es steigt aus uns selber auf, wir ziehen es heran, selbst Tod, Schicksalsschläge, naturalistischer Wirrwarr sind unsere eigenen Materialisationen u was wir Lebenslauf u. Biographie nennen, ist die Aura, die Oddschicht unseres inneren Seins, das sich Geltung u. Gestaltung schafft. So gesehn, passt auch mein jetziges, nun 11 Jahre währendes Schweigen u. Verdecktsein, in meinen Stil u. meine angeborenen Linien. »Es giebt Existenzen, in die greift das Schicksal nicht ein –« …3

 

So schrieb der Mann mit dem Denkerschädel, dem wehen Mund, der in Sanftheit gedämpften Stimme und dem unter schweren, herabgelassenen Augenlidern entrückten Blick. Er führte ein Leben an den Rändern, wo, wie er sich selbst ausdrückte, das Dasein fällt und das Ich beginnt.4 Meist verlief es aufreizend jenseits gesellschaftlicher Anerkennung und meist in der Rolle des Outcast. Regelmäßig trafen ihn schwere persönliche Schicksalsschläge, worauf psychische oder körperliche Zusammenbrüche folgten.

 

Wer wie ich alle Scalen von Missstimmungen, inneren und äusseren Dyspepsieen, Verfallslagen, Gebrochenheiten, tiefsten Depressionen, unsagbaren Zerstörtheiten kennt …, der kann mitfühlen … (Je älter ich werde, umso rätselhafter wird mir, was der Mensch als zoologische Erscheinung eigentlich bedeutet. Er ist kein Tier, aber was er ist, ist so unheimlich und heimtückisch, dass ich tagelang in kein Gesicht mehr sehen kann.)5

 

Weil die Zusammenbrüche nicht zu ergründen waren, sondern nur zu fühlen, ergaben sich daraus Verwandlungen, Neuausrichtungen und Neuanfänge, die ohne die Bereitschaft zu Verdrängungen und Vergessen, ohne die glücklichste Gabe der Menschheit: »ihr schlechtes Gedächtnis«,6 nicht möglich gewese