: Julia Koch
: Weibersterben Kriminalroman
: Emons Verlag
: 9783863589752
: 1
: CHF 7.70
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 432
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein verschwundenes Kind. Eine Dorfgemeinschaft, die schweigt. Ein Nachtmahr, der immer wiederkehrt. Puppenmacherin Clara möchte ihren seit vielen Jahren verschollenen Bruder wiederfi nden. Inkognito zieht sie zurück in ihr Heimatdorf Engenmatt in Obwalden. Doch nicht alle dort wollen, dass alte Geschichten neu erzählt werden - und eine Vergangenheit ans Licht kommt, die verstörender ist, als Clara ahnen kann. Stück für Stück setzt sich ein dunkles Ganzes zusammen: eindringlich, atmosphärisch, zwingend.

Julia Koch, in Bremen geboren, verbrachte ihre Kindheit im Kanton Obwalden. Seit ihrem Studium an der Universität Bern unterrichtet sie Jugendliche in Sprachen und Kunst. Mit ihrer Familie lebt sie heute im Herzen der Schweiz.

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Die Köpfchen mit ihren leeren Augenhöhlen lauerten den Besuchern auf, wenn diese es wagten, ungefragt einen Schritt in ihre Puppenstube zu setzen. Willkommene Besucher gab es nicht, niemals und unter gar keinen Umständen. Sie musste allein sein mit den leeren Köpfen, den Armen und Beinen. Den Füsschen, den Händchen. Den kalten Bäuchlein und den starren Hälsen.

Die Puppen erzählten ihr vom erlebten Unglück. Wie sie von ungeschickten Mädchenhänden zerkratzt und geschlagen wurden. Sie erzählten von den heissen Tränen des ersten Liebeskummers, die ihre Kleidchen aufsogen. Von mädchenhaften Frauen, die ihre Liebe niemals einem echten Kindchen hatten schenken können und deswegen ihre ganze Zuwendung auf die Puppen richteten. Sorgsam auf der Häkeldecke drapiert, bis nach dem plötzlichen Tod der alten Puppenmutter ein entfernter Verwandter die Wohnung ausräumte und sie achtlos in die Mülltonne warf. Die Köpfe erzählten ihr vom Glück, nun von ihren Händen gepflegt zu werden.

Das Zerkratzen ihrer Porzellanhaut konnten die Puppen verkraften, jedoch wenn sie fallen gelassen wurden, zersprengte das ihre Glieder für alle Zeiten.

Sie fuhr mit den Fingerkuppen liebevoll über das antike Füsschen in ihren Händen. So klein. Alle Zehen waren abgesprengt, und die Puppe hatte an Standhaftigkeit verloren. Ihr Daumen strich entlang der scharfen Kante, ein zarter Schnitt frass sich ins Fleisch, hinterliess einen tiefroten Ring auf der Haut. Die Wunde des Puppenmädchens war ungleich grösser, sie würde die Zehen niemals so perfekt nachformen können, dass das hübsche Kind ohne sichtbare Narben weiterleben konnte. Es würde ihr wohl oder übel nichts anderes übrig bleiben, als den Fuss ganz zu ersetzen, da der undankbare Erbe es nicht für nötig befunden hatte, das fehlende Füsschen in der gleichen Tonne zu entsorgen. Sie hätte es sicherlich gefunden, war sie doch in ihrem schönsten Sonntagskleid in diesen Abfallberg gestiegen und hatte die stinkenden Haufen nach dem fehlenden Teil durchwühlt. Ihr war das Herz stehen geblieben, als sie an diesem Sonntagmorgen die Puppe zuoberst in der Tonne liegen sah. Es schien, als sei diese allein deswegen so drapiert worden, damit sie jemand fände.

Ihre Arbeitsstätte befand sich im grössten Raum der Dachwohnung, der Stube, und wurde von einem gewaltigen Holztisch in der Mitte dominiert. Hier war ihr Reich, das sie mit keiner Menschenseele teilen wollte. Nur die misshandelten Puppen fanden den Weg zu ihr in die Puppenstube. Im Glasschrank, der die gesamte Nordseite des Zimmers einnahm, versammelte sich eine Armada kranker Kinder. Hier lagen sie, die Fuss- und Händelosen, die Geköpften, die Zerdrückten. Die Aufgerissenen, die Zerkratzten, die Blicklosen. Die Zu-Tode-Geliebten.

Allesamt stumm. Die Puppenstube durfte niemand betreten. Ausnahmen gab es keine.

* * *

Nachdem der alte Stybli-Wirt, Niklaus von Matt, der nur Glois genannt wurde, das Zeitliche gese