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Evan
Wir brauchen dich hier, du bist der Einzige, der mit allen Abläufen vertraut ist.
Evan schüttelte ungläubig den Kopf, denn die verzweifelte Bitte seiner Mutter verfolgte ihn seit ihrem Telefonat am Morgen. Nicht nur, weil er in ihrer Stimme die nackte Angst gehört hatte, sondern weil es das erste Mal überhaupt gewesen war, dass sie ihn verzweifelt angefleht hatte. Evan lachte zynisch. Die Frau, der es vor zehn Jahren nicht schnell genug gegangen war, dass er das Gastgewerbe von der Pike auf lernte. Nicht etwa im Juwel bei seiner Familie, nein, in Europa. Fernab von seinem Elternhaus – und Brianna. Er war erst sechzehn gewesen, bis über beide Ohren verliebt und konnte kein einziges Wort Französisch, doch das hatte seine Mutter nicht interessiert.
Evan lief zum Fenster und sah nachdenklich hinaus. Dieser unerwartete Anruf war nicht nur zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt gekommen, er stellte auch sein Leben komplett auf den Kopf. Mittlerweile war er längst nicht mehr der verlorene Jugendliche, der kein Wort verstand, sondern einer der erfolgreichsten Geschäftsmänner in ganz Paris und er hatte hier alle Hände voll zu tun.
Sein Blick wanderte automatisch zum Wahrzeichen der Stadt, das sich goldleuchtend von der Dunkelheit absetzte, und zum ersten Mal seit einer langen Zeit gestattete sich Evan einen Gedanken an Brianna. Der Schmerz, den er viele Jahre verdrängt hatte, war verschwunden. Dennoch trug er es ihr bis heute nach, dass sie ihm nie geantwortet hatte. Keinen einzigen verdammten Brief, und er hatte in seinen Lehrjahren weiß Gott Besseres zu tun gehabt, als verliebte Briefe zu schreiben, auf die er nie eine Antwort bekam.
Evan ging gedanklich seine To-do-Liste durch. Den Hoteldirektor, der ihn während seiner Abwesenheit vertreten würde, hatte er bereits am Morgen instruiert. Ebenso seine Assistentin. Sie würde die geplanten Meetings alle absagen oder notfalls auf Videokonferenzen umleiten. Außerdem hatte sie versprochen, sich um Jean-Luc zu kümmern – ein Graupapagei, den ihm seine Freunde zum Einzug geschenkt hatten, obwohl Tiere im Hotel eigentlich nicht gestattet waren. Das war vor drei Jahren gewesen, kurz nachdem die Tinte auf dem Kaufvertrag für eine weitere Immobilie, die in den Besitz der Waynes überging, getrocknet war. Beinahe zur selben Zeit hatte er Vivien kennengelernt – seine heutige Verlobte. Mist, dann mussten sie wohl auch ihre Tortenverkostung verschieben, dies war ja leider nicht über Zoom möglich.
Der Flug war ebenfalls schon gebucht und sein Koffer gepackt. Dieser stand ohnehin immer bereit, da er oft spontan verreisen musste. Da er allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht sagen konnte, wie lange sein Aufenthalt in New York dauern würde, war es wohl besser, etwas mehr einzupacken. Vor allem warme Kleidung, denn zu dieser Jahreszeit konnte es im Big Apple eisig werden. Was nicht nur an seiner Mutter lag, sondern vielmehr am kalten Wind, der durch die tiefen Häuserschluchten pfiff.
Augenblicklich verzog sich sein Mund zu einem Lächeln, als er sich an einen längst vergangenen Wintertag aus seiner Kindheit erinnerte. Sein Dad und er hatten vor den Toren des Juwels einen Schneemann gebaut und ihn gebührend verziert. Mit dem Frack, wie die Concierges sie trugen, und dem hochnäsigen Gesicht aus schwarzen Steinchen hatte er eine verblüffende Ähnlichkeit mit Hector gehabt. Doch diese Zeiten und die Schneeballschlachten vor den Drehtüren des Juwels waren längst vorbei und Evan fragte sich, wie schlecht es um seinen geliebten Vater wirklich stand. Noch im Sommer hatten sie einige Tage zusammen verbracht und Simon hatte keineswegs den Eindruck gemacht, dass es ihm gesundheitlich schlecht ginge. Im Gegenteil, er wirkte losgelöst und entspannt – fernab von New York. Vor allem ihre Spaziergänge am Abend entlang der Seine hatte er genossen, ebenso wie die Speisen und den hervorragenden Wein in dem kleinen Restaurant in der Avenue de Versailles. Er sah seinen alten Herrn förmlich vor sich, wie er sich nach dem Essen – in Butter pochierter Hummer mit Champignons und Sauce Bordelaise – glücklich den Bauch rieb. Seitdem gab es dieses Gericht auch regelmäßig an Ednas Küchentisch. Obwohl die Köchin mittlerweile im Ruhestand war, so ließ sie es sich nicht nehmen, Simon Wayne, wann immer es die Zeit zuließ, kulinarisch zu verwöhnen.
Bittersüße Erinnerungen mischten sich mit einem Gefühl von Hilflosigkeit, denn Evan wollte nicht glauben, dass sein Vater wirklich so krank war