Abigail
Weihnachten – die schönste Zeit des Jahres.
Für Abigail aber war es vielmehr die schlimmste Zeit des Jahres. Nicht nur, weil sich ihr Zuhause in den nächsten Tagen in ein lautes Motel für alle Verwandten und Anverwandten verwandeln würde, sondern auch, weil es kein Entkommen gab. Für einen Moment fragte sich Abigail, ob ihre Familie wohl als Vorlage für den FilmKevin – Allein zu Haus gedient hatte. Sie hatte es nicht nur mit nervigen Geschwistern, Cousins und Cousinen zu tun, sondern auch mit Tanten, die gar nicht genug vom kollektiven Plätzchenbacken und Kochen bekamen, während ihre Onkel und ihr Vater das Haus und den Vorgarten mit Lichterketten schmückten. Es würde sie nicht weiter wundern, wenn man ihr Haus selbst vom Weltall aus sehen konnte, oder sich sämtliche Tiere im Umkreis von zehn Meilen panikartig in den Pazifik stürzten.
Aber am schlimmsten von allen war ihre Grandma Mathilda, die bereits seit einer Stunde im Zimmer nebenan ihre Posaune quälte, als gäbe es kein Morgen. Schließlich musste jeder Ton vonCarol of the Bell bisWhite Christmas sitzen, wenn schon bald Martha, ihre Zwillingsschwester aus Little Falls, eintraf.
Beim Gedanken an Martha und ihren Mann Eugene hellte sich Abigails Gesicht schlagartig auf. Gleichzeitig fragte sie sich, wer so verrückt war, sich freiwillig in einen Flieger zu setzen, einmal quer über den Kontinent zu fliegen, um schließlich im abgelegensten Teil der USA Weihnachten zu feiern. Hier gab es weder eine anschauliche Main Street noch einen hübsch geschmückten Pavillon wie in der Kleinstadt in Connecticut, die sie nur von Fotos und Erzählungen kannte.
Eugene dagegen konnte gar nicht genug von all der Abgeschiedenheit und vom Mount Edgecumbe – einem inaktiven Vulkan – bekommen. Ihr Großonkel hatte sich eigens für seine seltenen Besuche in Sitka eine Art „Überlebensanzug“ gekauft, falls er in den verschneiten Wäldern verloren gehen sollte. Doch Abigail bezweifelte, dass ihn der gefütterte Thermoanzug mit Signallichtern auch vor hungrigen Tieren schützte. Zumindest hätte er bei seinen Wanderungen viel Ruhe, bei einer Bevölkerungsdichte von einem Einwohner je Quadratkilometer.
Abigail schnappte sich ihren Ugly-Christmas-Sweater aus der Kommode, zögerte einen Augenblick, dann zog sie sich das flauschige Etwas, das ihre Grandma höchstpersönlich mit viel Liebe gestrickt hatte, über den Kopf. Okay, sougly war er nun auch wieder nicht. Ihre Grandma hatte sich glücklicherweise an ihre Vorgaben gehalten – Rudolph mit einer rot leuchtenden Nase, die per Knopfdruck sogar blinkte.
Sie hoffte nur, dass die Verwandten aus Little Falls ebenfalls an ihre Pullis dachten. Nicht auszudenken, wenn sie am Weihnachtsmorgen ohne passende Garderobe aufschlugen. Mathilda würde ihnen glatt die Geschenke verweigern oder sie zum Küchendienst verdonnern – und bei den Sinclairs gab es viel zum Spülen, sehr viel.
„Frühstück ist fertig!“
Abigails Herz setzte vor Schreck einen Schlag aus, als ihr Cousin Bernie ins Zimmer stürmte.
„Hey, hab ich dir nicht gesagt, dass du anklopfen sollst?“ Sie konnte nicht mehr mitzählen, wie oft sie dem kleinen Quälgeist schon erklärt hatte, dass sie viel Wert auf Privatsphäre legte. Immerhin war sie dreizehn und wollte nicht permanent von irgendjemandem überrascht werden. Erst gestern Abend war Onkel Marv hereingeplatzt, um sich ihre Lupe auszuleihen, weil er seine Lesebrille zu Hause vergessen hatte.
„Tut mir leid, Abby“, kam es nun kleinlaut zurück.
Warum erinnerte sie der kleine Bernie immerzu an Simon von den Chipmunks? Wahrscheinlich lag es daran, dass er wie das Eichhörnchen aus dem Film ebenfalls eine Brille trug und noch dazu ziemlich schlau war. Okay, und er liebte ebenfalls die Farbe blau.
„Schau mal, Grandma hat mir das Krümelmonster auf den Pulli genäht!“
Auch wenn der Kleine ziemlich nervte, und das tat er in den zwei Wochen seines Besuchs zweifelsohne, konnte Abigail ihm nicht böse sein. Mit einem liebevollen Lächeln erwiderte sie: „Der sieht toll aus und dann noch in deiner Lieblingsfarbe.“
Ihr Blick fiel auf die zwei angenähten Augen, die