: Matthias Politycki
: Samarkand Samarkand Roman
: Hoffmann und Campe Verlag
: 9783455812220
: 1
: CHF 8.10
:
: Erzählende Literatur
: German
: 400
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Alle Geschichten kommen aus Samarkand.' Die Welt ist aus den Fugen geraten, und wo einst die Seidenstraße entlang führte, ist 2026 das Epizentrum der Erschütterung. Alexander Kaufner, Gebirgsjäger und Grenzgänger, reist in das sagenumwobene Samarkand und begibt sich auf die Suche nach einer geheimnisvollen Kultstätte. Doch können Sieg oder Niederlage, Krieg oder Frieden tatsächlich von einem Haufen heiliger Knochen abhängen? Zusammen mit seinem Bergführer Odina, der ihm durch einen Schwur verpflichtet ist, und beschützt durch das wunderliche Mädchen Shochi, das die Zukunft träumen kann, durchstreift Kaufner die gewaltige Bergwelt Zentralasiens. Und gerät dabei zusehends in einen Wettlauf auf Leben und Tod, nicht zuletzt mit sich selbst. Dieses bildmächtige Epos ist Abenteuerroman, Liebesroman und Untergangsroman zugleich, es erzählt von der Konfrontation mit der Fremde, in der die großen existenziellen Fragen neu gestellt werden.

Matthias Politycki gilt als großer Stilist und ist einer der vielseitigsten Schriftsteller der deutschen Gegenwartsliteratur. Sein Werk besteht aus über dreißig Büchern, darunter Romane, Erzähl- und Gedichtbände, sowie Sachbücher und Reisereportagen. Zuletzt erschienen von ihm Das kann uns keiner nehmen, vom Spiegel als 'Deutschland-Roman vor afrikanischer Kulisse' gerühmt, der zu einem großen Publikumserfolg wurde, die vielbeachtete Streitschrift Mein Abschied von Deutschland sowie im April 2023 sein großer neuer Roman Alles wird gut. Chronik eines vermeidbaren Todes.

Zweites BuchDer Schrei des Fremden


Das Winterhalbjahr28/29 begann mit viel Lärm und einem Toten. Spätnachts war Kaufner in der Stadt angekommen, vom Registan bis zum Universitet Boulevard hatte ein volksfestartiger Trubel geherrscht, wie er ihn noch nie erlebt. Tausende Russen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zusehends an den Rand der Gesellschaft geraten waren, tanzten, feierten, fielen einander mit tränenüberströmten Gesichtern um den Hals. Zum zweiten Mal seit der Rückeroberung Ostdeutschlands durften sie Hoffnung hegen, daß es bald wieder so schön werden könnte wie in der guten alten Zeit.

Wenige Stunden zuvor war beiGazprom TV die Meldung gekommen, die Panslawische Allianz sei von ihrem Brückenkopf in Alaska, den sie seit Anfang des Jahres gegen die Bombardements derUS-Drohnen gehalten hatte, zur Gegenoffensiveübergegangen. Erfolgreich! Die Yankees, wie man sie in den russischen Medien nannte, leisteten angeblich nur schwachen Widerstand. Alaska kehre heim in die Föderation! grölten die Menschen den Sicherheitskräften zu, die sich am Straßenrand aufgereiht hatten, dahinter die nichtrussische Bevölkerung der Stadt, schweigend.

Auch in Shers Büro brannte noch Licht, drinnen saß die Familie vor dem Fernseher und ließ sich von einer russischen Talkshowrunde erklären, Alaska sei immer russisch gewesen und werde nun»wiedereingliedert in den Verbund der Föderation«.

»Schön, daß du wieder da bist!« strahlte Shochi, freilich ohne Kaufner, wie früher, zu umarmen. Sie habe von ihm geträumt, das habe richtig weh getan. Shochi seufzte wie eine Erwachsene. Aber es sei ja noch mal alles gutgegangen.

Ob die Russen auch in Deutschland vorgerückt seien, fragte Kaufner, kaum daß er reihum jeden begrüßt hatte.

In Deutschland? Ja, natürlich, erinnerte sich Sher mühsam, es war wohl schon einige Monate her.

Der Osten Deutschlands sei jetzt eine Demokratische Republik! wußte Jonibek. Draußen mitfeiern durfte er trotzdem nicht.

In den Ohren Kaufners, die ein halbes Jahr lang kaum mehr vernommen hatten als Wind, Wasser und Gewitter, dazu das Gekrächz der Raben und den Pfiff der Murmeltiere, tönte der Lärm der Stadt noch am nächsten Tag wie das Weltgericht. Selbst der Polizist, der im Hof sein Frühstück einnahm, schien ihm ungebührlich laut nach Maysara zu rufen, auf daß sie ihm mehr Kartoffelpuffer und Eieromelett auftischte. Nun ja, ein Polizist, zuckte Maysara mit den Schultern, bitte kein Aufsehen, keine Beschwerde. Sofern er’s vorziehe, könne Kaufner gern auf seinem Balkon frühstücken.

Einige Tage später rumpelte ein Lieferwagen am TeehausBlaue Kuppeln vorbei, der riesigen Schlaglöcher und querenden Abwasserkanäle nicht achtend, ein Stück bergab kam er in einer Staubwolke zum Stehen. Als ihn Kaufner, gefolgt von einigen der Alten, erreicht hatte, war bereits eine Trage aus dem Laderaum gezogen und auf der Straße abgesetzt. Fahrer und Beifahrer klopften ans Tor eines Hauses, riefen so laut nach dessen Bewohnern, daß die Nachbarn aus ihren Höfen heraustraten und auf der Stelle drauflosschwiegen, selbst die Kinder.

Kaufner stand direkt an der Trage, sah auf die blutdurchtränkte Decke, auf die Füße, die darunter hervorragten, die Gummischlappen, die ihm gleich seltsam bekannt vorkamen. Lauschte dem schwachen Stöhnen, das durch die Decke drang. Beugte sich ganz zu dem herab, der da lag und mit dem Tode rang, sofort trat einer der beiden Männer zwischen ihn und den Sterbenden, hielt Kaufner mit einem Blick auf Distanz. Eine Weile war es ganz still. Plötzlich ein kraftlos stiller Schrei. Nach einer weiteren Pause setzte wieder leis das Jammern ein.

Endlich wurde das Tor geöffnet, eine Frau mit Kopftuch und Leoprint-Jacke ließ die beiden samt Trage ein. Kaufner fragte sich, in welcher Sprache der Mann nach dem Tod gerufen hatte, auf Russisch, Usbekisch, Tadschikisch? In diesem Moment erinnerte er sich an Odinas Schlappen, natürlich, das waren sie gewesen! Kaufner hatte sie einen Sommer lang mit seinem Haßüberzogen, er kannte sie auswendig.

Die beiden Männer, die wenige Augenblicke später mit leerer Trage aus dem Haus traten, wimmelten ihn jedoch brüsk ab: Odina? Keine Ahnung, sie seien bloß die Fahrer, warum sollten sie seinen Namen kennen?

Wahrscheinlich ein Flüchtling, ließen sie großzügigerweise noch wissen, als sie schon im Auto saßen: Ein junger Kerl, kaum an die zwanzig.

Aber woher genau?

Von der Grenze natürlich, woher sonst!

Nun war es an Kaufner, mit beiden Fäusten gegen das Tor zu hämmern. Einige der Nachbarn versuchten, ihn wegzuziehen– der Mann liege im Sterben, Kaufner möge es respektieren –, doch die Frauöffnete ohnehin nicht mehr. Kurz darauf fuhr der Notarzt vor. Als er das Haus wieder verließ, verstellte ihm Kaufner den Weg, der Verletzte sei höchstwahrscheinlich sein Freund, er müsse zu ihm!

Sein Freund? Wohl kaum. Der Arzt wimmelte ihn ab wie jemanden, der nicht für voll genommen werden konnte: Ganz ruhig. Sein Freund sei längstübern Berg, alles in Ordnung, keine Sorge. Mehr dürfe er nicht sagen.

Am Tag darauf wurde das Hoftor sofort geöffnet, als Kaufner vorstellig wurde, ein breiter Mann im Nadelstreifenanzug trat ihm unwirsch entgegen: Nein, den Kerl, der da antransportiert worden, kenne keiner, noch gestern habe man ihn ins Krankenhaus geschafft. Vielleicht ein Zigeuner, vielleicht einer aus dem Saliniaviertel. Jedenfalls ein Herumtreiber, keiner von hier. Eine Verwechslung, man habe damit nichts zu tun.

Kaufner schloß die Augen, hörte den stillen Schrei des Sterbenden. Ganz sicher Odinas Stimme, ganz sicher. Im Krankenhaus wußte man von einem Mann, der gestern schwer verletzt eingeliefert, dann ins internationale Krankenhaus verlegt worden. Dort hingegen wußte man von niemand. Das Hamam war geschlossen, blieb geschlossen bis auf weiteres, angeblich wichtiger Reparaturarbeiten wegen, wie ma