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Der Atlantik liegt wie ein dunkler Bleiteppich vor uns, als die Fähre von Cape Cod in Richtung Martha’s Vineyard ablegt. Aber kaum haben wir das Hafenbecken verlassen und sind auf das offene Meer hinausgefahren, bricht der wolkenverhangene Nachmittagshimmel auf, und die Sonnenstrahlen glitzern auf der Wasseroberfläche wie tausend funkelnde Sterne.
»Endlich wird das Wetter besser!«, sagt meine beste Freundin Liv gut gelaunt und rutscht ein Stück näher ans Fenster.
»Ich fände Wolken und strömenden Regen irgendwie passender«, antworte ich und ziehe den Reißverschluss meiner Hoodie-Jacke mit dem Schriftzug des Boston-University-Schwimmteams nach oben. »Das würde wenigstens meiner Gefühlslage entsprechen. Warum sollte die Sonne scheinen, wenn ich am Tiefpunkt meines Lebens angekommen bin?«
Mit beiden Händen umfasse ich den heißen Kaffeebecher, der vor mir auf dem Tisch steht. Zumindest gibt er ein bisschen Wärme ab, denn mir ist seit Wochen dauerkalt – äußerlich und innerlich.
»Ach, jetzt hör auf, Josie!« Liv sieht mich streng an. »Du bist nicht am Tiefpunkt deines Lebens angekommen. Und selbst wenn – ab sofort wird es aufwärtsgehen, versprochen.«
Sie schiebt ihre große schwarze Brille mit dem Zeigefinger auf dem Nasenrücken nach oben, so wie sie es ungefähr vierhundert Mal am Tag macht. Ich habe ihr – ebenfalls schon an die vierhundertmal – gesagt, dass sie sich die Bügel enger stellen lassen soll, aber sie weigert sich standhaft und behauptet, von einer zu eng sitzenden Brille Kopfschmerzen zu bekommen.
Seit sie sich vor fünf Jahren in meiner allerersten Meeresbiologie-Vorlesung an der Boston University neben mich gesetzt hat, ist viel passiert. Nachdem wir unser Studium gemeinsam gemeistert hatten, habe ich einen Job als Laborantin im Abbott Institute for Marine Biologie in Dorchester angenommen, und Liv ist dabei, ihren Doktor zu machen – aber ihre Brille rutscht heute noch genauso wie am ersten Tag.
»Anstatt dich weiter vor Liebeskummer zu verzehren, solltest du lieber daran denken, was für eine tolle Zeit wir vor uns haben«, versucht sie mich aufzumuntern. »Deine Probleme werden sich schneller in Luft auflösen, als du ›Trübsal‹ sagen kannst. Wir werden den ganzen Sommer auf einer traumhaften Insel verbringen, in einem Haus direkt am Meer wohnen, jeden Tag am Strand sein, schwimmen, Ausflüge machen, Sundowner trinken …«
Sie klatscht vor Begeisterung in die Hände und strahlt mich an. Ich weiß, dass sie es gut meint, aber im Moment hört sich das, wovon sie da gerade schwärmt, für mich weniger nach Spaß, sondern eher nach Folter an. Das Einzige, was ich will, ist, in mein Bett zu kriechen, mir die Decke über den Kopf zu ziehen und die nächsten Wochen nicht mehr aufzustehen. Außer vielleicht, um aufs Klo zu gehen oder mir Oreos mit doppelter Cremefüllung aus der Küche zu holen.
»Ich bezweifle, dass sich alle meine Probleme über den Sommer in Luft auflösen werden«, sage ich matt. »Wie auch? Mein Leben ist ein einziger Scherbenhaufen.«
Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter un