: Andrej Kurkow
: Petrowitsch
: Diogenes
: 9783257610635
: 1
: CHF 13.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 448
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der junge Geschichtslehrer Kolja gerät auf der Suche nach den geheimen Tagebüchern des ukrainischen Vorzeigedichters Taras Schewtschenko in die kasachische Wüste, wo er bei einem Sandsturm fast umkommt. Ein alter Kasache und seine beiden Töchter retten ihm das Leben. Doch das ist erst der Anfang einer langen Reise ­ und einer zarten Liebesgeschichte.

Andrej Kurkow, geboren 1961 in St. Petersburg, lebt seit seiner Kindheit in Kiew und schreibt in russischer Sprache. Er studierte Fremdsprachen, war Zeitungsredakteur und während des Militärdienstes Gefängniswärter. Danach schrieb er zahlreiche Drehbücher. Seit seinem Roman ?Picknick auf dem Eis? gilt er als einer der wichtigsten zeitgenössischen ukrainischen Autoren. Sein Werk erscheint in 42 Sprachen. Kurkow lebt als freier Schriftsteller mit seiner Familie in der Ukraine.

Am Freitag morgen blätterte ich wieder inDer Kobsar und ergötzte mich an den Bleistiftkommentaren.

»Die Weichheit der Heimaterde unterscheidet sich nicht von der Weichheit fremder Erde, weil sie wie jede beliebige Erde der Urgrund der Menschheit ist und sich nicht zwischen den einzelnen Nationen gemäß der Qualität dieser Nationen aufteilen kann.«

Mich erstaunte nicht mal die Klarheit der Formulierungen, sondern der Gegenstand der Überlegungen, als wenn der Mensch, der das geschrieben hatte, sich nur deshalb von den Gefühlen und den Reimen des Taras Schewtschenko entfernt hatte, um über seinen eigenen Schmerz zu berichten, um über sein eigenes Leid klagen zu können. Aber warum hatte ihn das in den relativ glücklichen sechziger Jahren so beschäftigt? Ein Nationalist war er nicht, sonst wären diese Kommentare auf ukrainisch geschrieben. Russischer Chauvinismus war es auch nicht, da neben den eigenen Gedanken Hochachtung, Mitleid und vielleicht sogar Liebe zu Schewtschenko mitschwang. Einen Moment lang dachte ich, daß seine Überlegungen Lenins Thesen ähnelten – insbesondere die These über das Verschwinden von Nationen und Nationalitäten in der Zukunft. Aber im selben Augenblick stellte ich mir vor, was Lenin wohl dazu sagen würde, daß die geliebte Frau die Heimat sei? Nein, ich glaube nicht, daß der Große Glatzkopf mit dieser These einverstanden gewesen wäre, wie schön auch immer die Krupskaja in ihrer Jugend gewesen sein mochte.

Aber die Zeit verging, ich legte das Buch beiseite, ohne es vergessen zu können, und machte mich auf die weitere Suche nach dem Autor dieser Kommentare. Ich ging zum Vorplatz der Universität. Meine Intuition flüsterte mir zu, daß Klim heute dort sein würde. Aber es war nicht nur Intuition. Draußen schien die Sonne, die Vögel zwitscherten. Es wäre dumm gewesen, bei so einem Wetter zu Haus zu sitzen – besonders wenn das Zuhause ein Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung auf der stark befahrenen Schota-Rustaweli-Straße war.

Ich fand ihn tatsächlich auf dem Platz. Zuerst suchte ich die beiden Alten, die mich schon kannten. Sie zeigten mit dem Finger auf eine Bank, wo die unbefristete Schachmeisterschaft des Univorplatzes ausgetragen wurde. Herauszufinden, wer von den Spielern Klim war, bereitete keine Schwierigkeit, weil der andere Schachpartner höchstens vierzig war.

Nachdem ich das Ende der Partie abgewartet hatte, die nicht weniger als zwölf Mitglieder des ›Klubs‹ verfolgten, ging ich zu Klim.

Dem hatte der hart errungene Sieg ganz offensichtlich ein Gefühl von Genugtuu