Die Anatomie der Macht
Macht können wir nicht ausweichen. Ob wir wollen oder nicht, wir werden unaufhörlich in Machtspiele oder Machtkämpfe hineingezogen. Oft zetteln wir sie selber an. Aus Lust oder aus Frust. Der Begriff Macht ist anrüchig und elektrisierend zugleich. Er aktiviert aufgeladene Ambivalenzen. Macht und Machtmissbrauch liegen so eng beieinander, dass wir das eine kaum ohne das andere denken können. Doch wir müssen Macht erobern. Ohne Macht sind wir ohnmächtig. Nur mit Macht kriegen wir, was wir wollen.
Was ist Macht?
Der Begriff Macht weckt eine Fülle unterschiedlicher Assoziationen: Herrschaft, Gewalt, Zwang, Kampf, Unterdrückung, Eroberung, Kraft, Unterwerfung, Befehl und Gehorsam, Manipulation, Recht, Willkür, Freiheit ebenso wie Unfreiheit. Macht hat mit all dem zu tun. Doch sie ist nicht auf einzelne Aspekte zu reduzieren. Sie kommt in diversen Varianten daher, stets begleitet von Unterordnung und Gegenmacht.
Die Psychologie der Macht erklärt die verschiedensten Verhältnisse und Facetten der Macht. Ihre Erkenntnisse sind nutzbar, um sich in Machtauseinandersetzungen zurechtzufinden, Widerstände und Verführungen zu erkennen, eigene Ziele besser zu verstehen und zu erreichen.
Als mächtig gelten Konzernchefs, Gewerkschaftsbosse, Banker, Hedgefonds, Ratingagenturen, Minister, Leiter von Behörden, Zeitungsverleger, Chefredakteure, Theater- und Opernintendanten, Universitätspräsidenten, Vorsitzende von großen Sportvereinen oder gemeinnützigen Einrichtungen. Sie üben Macht aus und bedienen Kaskaden der Macht. Sie geben Verantwortung weiter an Personen, die Funktionen auf nachgeordneten Ebenen der jeweiligen Organisation ausüben, und diese setzen die abgestufte Distribution der Macht fort. So entstehen Hierarchien, so werden sie erhalten. Mit ihrer Funktion avancieren Mitarbeiter, differenziert nach ihrem jeweiligen hierarchischen Rang, zu Teilhabern der Macht. Wie stark die Macht ist, hängt ab von persönlichen Eigenschaften und der Position im Gefüge, mehr noch von der Macht der Organisation. Das gilt auch für die, die an ihrer Spitze stehen.
In Institutionen der Politik, der Wirtschaft, in Verbänden oder Vereinen erscheint Macht besonders ausgeprägt. Sie zeigt sich in Entscheidungsmacht, der Verfügung über Budgets und Personal, in Weisungsbefugnissen, Einkommen, Privilegien und Insignien, in Ansehen und Netzwerken, mit denen Machthaber – über den eigenen unmittelbaren Bereich hinaus – Einfluss geltend machen.
Macht gibt es ebenso in persönlichen Beziehungen, obwohl viele Menschen meinen, da sollte sie nichts zu suchen haben. Doch geht es auch dort (meist) nicht um machtneutrale Sympathie, Zuneigung oder Liebe. Macht wird spürbar, wenn Interessen aufeinanderprallen, darum gerungen wird, wer sich mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen durchsetzt, und wenn dazu die entsprechenden Mittel eingesetzt werden. In einer Familie kann die Kontroverse darum gehen, wer eher für die Kinder und den Haushalt zuständig ist oder berufliche Ambitionen verfolgen darf. Oft sind die Ergebnisse solcher Auseinandersetzungen nicht das Resultat gütlich verhandelter Übereinkunft. Sie entstehen, weil einer sich gegen den anderen durchsetzt. Auf dessen Kosten. Wer in einer Beziehung um Zuneigung ringen muss, verfügt über weniger Macht als der, dessen Zuneigung begehrt wird. Wer sich vergeblich um Zuneigung oder Liebe bemüht, erlebt sich als macht- und wertlos.
Das Repertoire der Machtinstrumente ist in vielen Situationen im Grundsatz gleich. Im Wesentlichen beruht das Arsenal der Mittel auf Belohnung oder Bestrafung. Was jeweils dazu taugt, hängt von der Situation, der besonderen Beziehung der handelnden Personen zueinander und von deren jeweiligen persönlichen Möglichkeiten ab. Die Psychologen Vescio, Snyder und Butz betrachten Macht von den Wirkungen aus, die sie erzielt: »Eine Person verfügt über Macht, wenn er/sie die Möglichkeit hat, andere in