27 – Nach genau drei Monaten, …
… drei Wochen, zwei Tagen und einundzwanzig Stunden stand Silvana das erste Mal wieder vor ihm. Vor Raymond. Und in dem Augenblick, als ihr diese Zahl ein zweites Mal an diesem Nachmittag durch den Kopf ging, präzisiert durch »einundzwanzig Stunden«, war sie bedeutungslos geworden. Ob eine Stunde, eine Woche oder zehn Jahre … Zeit, die sie trennte, war ohne Belang, würde immer ohne Belang sein. Nur was das genau hieß oder für ihr Leben bedeutete, darüber wollte und konnte Silvana jetzt nicht nachdenken.
Rosa, hallte es ihr durch den Kopf.Rosa ist schwer erkrankt.
Umständlich distanziert reichte Raymond ihr die Hand und ging unvermittelt einen halben Schritt zurück. Silvana tat es ihm nach. Sie wagten nicht, dem anderen zu nahe zu kommen – sie wussten im Moment nicht, wie sie sich begegnen sollten.
Auch wagte er nicht, ihr in die Augen zu blicken, und Silvana bemerkte an ihm nur, dass er schlecht aussah. Er wirkte fahrig zerstreut, beinahe wie damals im Hotel.
»Es tut mir leid …«, sagte er. »Ich hoffe, du musstest nicht –«
»Was ist mit Rosa? Wo ist sie?«, unterbrach Silvana ihn.
»In ihrem Zimmer. Der Arzt ist wieder bei ihr. Sibylle ist auch da.«
»Der Arzt? Wieder …?«
Er begriff sofort. Und er erzählte, dass er gestern Abend mit ihr zurückgekehrt und Manfred Vontell, der Hausarzt, dann gleich bei Rosa gewesen war. »Sie hat hohes Fieber, noch immer, aber mehr weiß Manfred zurzeit auch nicht. Er will sie in eine Klinik … Ich habe Angst, Silvana. Das alles ist meine Schuld.«
Nun sah Silvana ihn doch genauer an. Wie hilflos er war … in seiner Schuld, nein, in seiner Liebe zu seiner Tochter. Und wie sehr sie das berührte. Aber jetzt ging es nicht um seine Hilflosigkeit oder um irgendeine Schuld.
»Darf ich zu ihr … zu Rosa?«
Er blickte sie kurz an, es war ein verlorener und auch hoffnungserfüllter Blick. »Natürlich, bitte, komm. Und verzeih, dass ich nicht den Mut hatte, dir von all dem zu schreiben. Ich wollte dich nicht … Sibylle hat mir entsetzliche Vorwürfe gemacht.«
Und mit Recht, dachte Silvana und folgte Raymond.
Im Moment als sie den langen Flur in der zweiten Etage betraten, kam Dr. Vontell aus Rosas Zimmer. Er wirkte nachdenklich, und als er sie sah, versuchte er zu lächeln, doch verlor sich dieses Lächeln sogleich wieder gequält in den Mundwinkeln.
Raymond stellte sie einander vor, beließ es aber bei wenigen Förmlichkeiten.
»Geht es ihr besser?«, fragte er besorgt.
Dr. Vontell schüttelte bedauernd den Kopf. »Gern würde ich dir etwas Positives sagen, Raymond, aber … nein. Ihr Zustand hat sich nicht dramatisch verschlechtert, aber dennoch ein wenig.«
»Das ist … das ist entsetzlich.« Raymond raufte sich die Haare. Er wirkte unsagbar hilflos. »Weißt du schon, was dieses Fieber ausgelöst hat?«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Wir sollten sie auf dem schnellsten Weg nach Konstanz bringen. Ich kann die Verantwortung hier nicht mehr übernehmen.«
Absichtlich, so schien es, vermied er es, von Klinik oder gar von Krankenhaus zu sprechen.
Er wartete einen kurzen Moment und fuhr dann fort: »Dort habe ich … haben wir andere Möglichkeiten.«
»Nicht immer, Manfred, nicht immer«, flüsterte Raymond und blickte entsetzt ins Leere. Er schien an Melissa zu denken, Silvana sah es ihm an … »Auch im Krankenhaus hätten die Ärzte nicht mehr tun können«, hatte Dr. Berthold, Melissas Frauenarzt, ihm vor Monaten gesagt; vielleicht waren diese Worte damals sogar genau hier, an dieser Stelle, ausgesproche