Umzug
Olivia schaute aus dem Zugfenster hinaus in den strömenden Regen. Er ließ die Landschaft vor ihr verschwimmen, doch viel gab es auf der Strecke zwischen Berlin und Köln sowieso nicht zu sehen. Nur Felder und Wiesen, die gerade erst grün wurden, und gelegentlich graue, langweilige Orte. Das Wetter und die Aussicht passten zu ihrer Stimmung. Sie fühlte sich verlassen und verraten – und jetzt wollte die ältere Dame, die ihr gegenübersaß, auch noch ein Gespräch anfangen.
»Wo geht es denn hin, so ganz allein?«, erkundigte sie sich in freundlich mitleidigem Tonfall, als könnte sie Olivia ihre Laune an der Nasenspitze ansehen.
»Nach Köln«, antwortete Olivia, nachdem sie kurz hochgesehen hatte, und blickte erneut aus dem Fenster.
»Sind denn überhaupt schon Ferien?« Die Dame ließ sich nicht entmutigen. »Bei einer so weiten Reise wirst du doch sicher ein paar Tage bleiben, oder?«
»So weit ist das nun auch wieder nicht …«, bemerkte Olivia.
Ihre Familie war reisefreudig. Eine weite Reise führte nach dem Ermessen ihrer Eltern mindestens nach Afrika.
»Ich besuche in Köln meine Tochter«, erzählte die Frau jetzt von sich, wohl um sie aus der Reserve zu locken. »Und du?«
»Ich ziehe um«, sagte Olivia widerwillig und sah ihr Gegenüber notgedrungen wieder an. »Und ja, die Ferien haben gerade begonnen.«
»Ach?« Die Dame wirkte alarmiert. »Aber deine Eltern wissen doch sicher, dass du nach Köln fährst, oder? Du bist nicht etwa auf eigene Faust unterwegs?«
Olivia seufzte. »Nein«, erwiderte sie genervt. »Wenn Sie’s genau wissen wollen: Ich wurde von meinem Vater in den Zug gesetzt, und ich werde von meiner Mutter abgeholt.«
Falls ich nicht aus dem Waggon springe, dachte sie. Sie wollte nicht unhöflich sein, aber so ein Gespräch hatte ihr gerade noch gefehlt. Immerhin war sie jetzt wütend, während sie eben nahe dran gewesen war zu weinen. Wütend zu sein war entschieden besser.
»Du sprichst aber sehr gut Deutsch«, bemerkte die Dame und setzte damit noch eins drauf.
Olivia war nahe daran zu platzen, und das Schlimmste war, dass sie Angst davor hatte, in der nächsten Zeit öfter mit Bemerkungen wie dieser zu tun zu haben. Im Diplomatenviertel in Berlin und in der Internationalen Schule, die sie bisher besucht hatte, wunderte sich niemand über krauses Haar und eine dunkle Hautfarbe. Da gab es Menschen mit Wurzeln aus aller Herren Länder. Ob sie in der Schule in Köln, die sie demnächst besuchen würde, ebenso wenig auffiel? Sie kannte die Stadt gar nicht richtig, weil sie in den Ferien immer nur ein paar Tage dort verbracht hatte. In den drei Wochen im Jahr, die sie mit ihrer Mutter hatte verbringen dürfen, war sie meist mit ihr verreist. Oft in spannende Länder, in denen man auch reiten konnte. Im vergangenen Jahr waren sie zum Beispiel in Island gewesen. Sie freute sich immer sehr auf die Wochen mit Julia – ihre Mutter ließ sich von ihr beim Vornamen nennen –, wenn sie ihre Vorbehalte auch nicht so richtig beiseiteschieben konnte: Wer mochte schon Zeit mit einer Mutter verbringen, die einen nicht hatte bei sich haben wollen?
Olivias Eltern waren seit neun Jahren geschieden, damals war sie gerade erst drei Jahre alt gewesen, und seitdem hatte sie bei ihrem Vater gelebt. Julia, so hatte er ihr erklärt, sei als Reisejournalistin