: Cecelia Ahern
: Hundert Namen Roman
: Piper Verlag
: 9783492605175
: 1
: CHF 8.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 448
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Journalistin lernt, dass in jedem Menschen eine außergewöhnliche Geschichte steckt Journalistin Kitty Logan steht nach einem schweren Fehler vor dem Aus ihrer Karriere. Doch sie bekommt eine letzte Chance: eine geheimnisvolle Liste mit hundert Namen, über die sie einen Artikel schreiben soll. Niemand kann Kitty sagen, wer diese hundert Personen sind oder was sie miteinander verbindet. Neugierig begibt sie sich auf eine abenteuerliche Reise, auf der sie die unterschiedlichsten Menschen kennenlernt. Als diese sich Kitty langsam öffnen und ihre Träume und Wünsche mit ihr teilen, versteht sie endlich, dass in jedem eine außergewöhnliche Geschichte steckt, auch in ihr selbst.  »Mit ?Hundert Namen? zeigt sich Irlands Schreibwunder Cecelia Ahern wieder als Meisterin der Einfühlsamkeit.« BZ 

Cecelia Ahern erzählt Geschichten über Menschen, die gerade durch eine Phase der Veränderung gehen. Sie selbst beschreibt ihre Bücher mit den Worten: »Ich fange meine Figuren dort auf, wo sie gefallen sind, und begleite sie von ganz unten wieder zurück. Ich mische gern Dunkelheit und Licht, Trauer und Humor.« Cecelia Ahern ist eine der erfolgreichsten Autorinnen der Welt. Sie schreibt zeitgenössische Romane, Novellen, Storys, Jugendbücher, TV-Konzepte und Theaterstücke. Ihre Romane wurden fürs Kino oder fürs Fernsehen verfilmt. Cecelia Ahern hat Journalistik und Medienkommunikation studiert und lebt mit ihrer Familie in Dublin.

Kapitel 1


Man nannte sie den »Friedhof«, denn kein Geheimnis, keine persönliche oder sonst wie vertrauliche Information, die man ihr anvertraut hatte, kam jemals wieder zum Vorschein. Bei ihr war alles gut aufgehoben, darauf konnte man sich verlassen, und man wusste auch, dass man nicht beurteilt wurde – und wenn doch, dann nur im Stillen, sodass man es nie erfuhr. Nicht nur ihr Vorname – der Standhaftigkeit und innere Stärke bedeutete – passte perfekt zu ihr, auch ihr Spitzname traf genau ins Schwarze; sie war stabil, zuverlässig, unerschütterlich, aber gleichzeitig eigentümlich anregend. Das alles machte es umso schlimmer, sie an diesem Ort besuchen zu müssen. Und es war wirklich eine Qual, nicht nur eine psychische Herausforderung; Kitty spürte einen körperlichen Schmerz in der Brust, genauer gesagt im Herzen, der mit dem Gedanken anfing, dass sie sich dorthin auf den Weg machen musste, sich beträchtlich steigerte, als sie angekommen war, und noch heftiger wurde durch das unverblümte Wissen, dass dies alles kein Traum war, kein falscher Alarm, sondern das Leben in seiner ursprünglichsten Form. Denn es war das Leben selbst, das bedroht war, und ihm stand eine sichere Niederlage bevor – eine Niederlage gegen den Tod.

Kitty durchquerte die Privatklinik, aber sie nahm nicht den Aufzug, sondern die Treppe, bog absichtlich falsch ab und ließ bei jeder sich bietenden Gelegenheit höflich anderen Menschen den Vortritt – besonders dann, wenn es sich um Patienten handelte, die sich mit einer Gehhilfe im Schneckentempo an ihr vorbeimühten oder einen Infusionsständer im Schlepptau hatten. Natürlich war ihr bewusst, dass sie neugierige Blicke auf sich zog, woran zum einen die Krise schuld war, in der sie zurzeit steckte, und zum anderen die Tatsache, dass sie schon wiederholte Male ziellos durch die Station gewandert war. Jedem, der sie ansprach, widmete sie sofort ihre ganze Aufmerksamkeit, und überhaupt tat sie alles, um ihre Ankunft in Constances Zimmer hinauszuzögern. Doch schließlich griffen all ihre Verzögerungsstrategien nicht mehr, denn sie landete in einer Sackgasse, einem halbkreisförmigen Korridor, von dem vier Türen abgingen. Drei davon standen offen, sodass man die Patienten und ihre Besucher sehen konnte, aber sie brachte es nicht übers Herz, hinzuschauen. Aber das war sowieso nicht nötig, denn auch ohne die Zimmernummern erkennen zu können wusste sie genau, in welchem Raum sich ihre Freundin und Mentorin befand. Sie war der geschlossenen Tür dankbar für den letzten Aufschub, den sie ihr gewährte.

Schließlich klopfte sie leise und unverbindlich. Sicher, sie wollte den Besuch machen, aber gleichzeitig hoffte sie, dass niemand das Klopfen hören würde. Denn dann könnte sie einfach wieder gehen, brauchte aber kein schlechtes Gewissen zu haben, denn sie hatte es ja versucht. Allerdings wusste der winzige Teil in ihr, der immer noch vernünftig dachte, dass es weder realistisch noch richtig war. Ihr klopfte das Herz bis zum Hals, während sie so vor der Tür stand und mit quietschenden Schuhsohlen von einem Fuß auf den anderen trat. Von dem Krankenhausgeruch war ihr schon ganz flau im Magen. Sie hasste Krankenhausgeruch. Eine Welle von Übelkeit überschwemmte sie, und sie atmete tief durch und betete um Fassung. Hoffentlich würden sich bald die angeblichen Vorzüge des Erwachsenseins einstellen, die einen Menschen dazu befähigten, solche Momente besser zu ertragen. Noch während sie damit beschäftigt war, auf ihre Füße zu starren und tief ein- und auszuatmen, ging die Tür auf, und sie war völlig unvorbereitet konfrontiert mit dem Anblick einer Krankenschwester und einer furchtbar krank aussehenden Constance. Kitty blinzelte einmal, blinzelte zweimal und wusste, dass sie sich spätestens beim dritten Mal unbedingt etwas einfallen lassen musste, weil es Constance garantiert nicht helfen würde, wenn Besucher spontan und ehrlich auf ihr Äußeres reagierten. Doch sosehr sie sich anstrengte, sie brachte kein Wort heraus. Nichts Lustiges, nichts Alltägliches, nichts Nichtiges fiel ihr ein, das sie ihrer Freundin, die sie seit zehn Jahren kannte, sagen konnte.

»Ich hab diese Frau noch nie im Leben gesehen«, sagte Constance mit ihrem französischen Akzent, den man ihr auch nach fast dreißig Jahren in Irland noch immer anhörte. Obwohl sie so krank aussah, war ihre Stimme so stark und fest, so sicher und unbeirrt wie eh und je. »Rufen Sie doch bitte rasch den Sicherheitsdienst, damit er die Dame aus dem Gebäude führt.«

Die Schwester lächelte, öffnete die Tür noch ein Stück weiter und ging dann wieder zu Constance.

»Ich kann ja später noch mal vorbeikommen«, brachte Kitty endlich heraus. Sie wandte sich ab und schaute sich angestrengt nach etwas Normalem, Alltäglichem um, mit dem sie sich ablenken und sich vormachen konnte, dass sie nicht im Krankenhaus mit diesem grässlichen Geruch war und dass sie nicht ihre todkranke Freundin besuchte.

»Ich bin fast fertig, nur noch rasch Fiebermessen«, erwiderte die Krankenschwester und platzierte ein Thermometer in Constances Ohr. Schnell schaute Kitty wieder weg.

»Komm, setz dich doch.« Constance deutete auf den Stuhl neben ihrem Bett.

Kitty konnte ihr nicht in die Augen sehen. Natürlich wusste sie, dass das unhöflich war, aber ihr Blick wanderte immer wieder weg, magnetisch angezogen von Dingen, die nicht krank waren und sie auch nicht an kranke Menschen erinnerten. Schließlich fing sie an, an den Geschenken herumzufummeln, die sie mitgebracht hatte. »Ich hab hier ein paar Blumen für dich«, verkündete sie und schaute sich nach einem geeigneten Stellplatz um. Constance hasste Blumen. Wenn jemand ihr welche schenkte, um sie zu bestechen, sich bei ihr zu entschuldigen oder einfach nur ein bisschen Farbe an ihren Arbeitsplatz zu bringen, ließ sie sie normalerweise einfach sterben. Natürlich wusste Kitty das genau, aber der Blumenkauf war schlicht Teil ihrer Verzögerungstaktik gewesen – vor allem deshalb, weil die Warteschlange so verlockend gewesen war.

»O je«, sagte die Schwester. »Hat Ihnen denn keiner gesagt, dass keine Blumen im Zimmer erlaubt sind?«

»Oh. Na ja, kein Problem, ich bringe sie weg«, meinte Kitty und sprang erleichtert auf, um die unerwartete Fluchtmöglichkeit zu nutzen.

»Moment, ich nehme sie«, rief die Schwester. »Ich lasse den Strauß für Sie an der Rezeption aufbewahren, dann können Sie ihn nachher mit nach Hause nehmen. So schöne Blumen darf man doch nicht einfach verkommen lassen.«

»Zum Glück hab ich auch noch Cupcakes mitgebracht«, verkündete Kitty und zog eine Schachtel aus ihrer Handtasche.

Wieder wechselten die Schwester und Constance vielsagende Blicke.

»Das kann doch nicht sein – Cupcakes sind auch verboten?«

»Der Koch möchte, dass die Patienten ausschließlich Dinge aus seiner Küche zu sich nehmen.«

Resigniert überreichte Kitty der Krankenschwester die verbotene Ware.

»Die können Sie nachher auch mit nach Hause nehmen«, lachte die Frau und musterte das Thermometer. »Alles okay«, sagte sie lächelnd zu Constance. Bevor sie ging, wechselten die beiden allerdings erneut einen vielsagenden Blick, als hätten die Worte eigentlich etwas ganz anderes bedeutet – es war ja keineswegs alles okay. Der Krebs fraß Constance langsam, aber sicher auf. Inzwischen wuchsen zwar ihre Haare nach, aber nicht gleichmäßig, sondern in unregelmäßigen Büscheln auf dem Kopf verteilt; über dem Ausschnitt des weiten Krankenhauskittels traten spitz die Schlüsselbeine hervor, und an beiden Armen, die extrem dünn und von den Spritzen und Injektionen voller blauer Flecken waren, hingen Kabel und Schläuche.

»Da bin ich ja froh, dass ich ihr nichts von dem Kokain in meiner Tasche erzählt habe«, sagte Kitty, als sich die Tür schloss, und sie hörten die Schwester auf dem Korridor laut und herzlich lachen. »Ich weiß, dass du keine Blumen magst, Constance, aber ich hatte Panik. Eigentlich wollte ich goldenen Nagellack, Räucherkerzen und einen Spiegel mitbringen, weil ich das irgendwie lustig fand.«

»Warum hast du es nicht getan?« Constances Augen lächelten und funkelten so strahlend blau wie immer, und wenn Kitty es schaffte, sich auf diese Augen zu konzentrieren, die so voller Leben waren, konnte sie den Rest des ausgezehrten Körpers beinahe vergessen. Beinahe. Aber nicht ganz.

»Weil...