Das rote Haus
Vergangene Nacht fuhr ich in Angstschweiß gebadet und schreiend aus einem Albtraum in die Höhe. Ich fühlte mich in jenes Haus zurückversetzt, das wir als Kinder in einem herrlichen Sommer auf Läsö, einer dänischen Insel mitten in der Ostsee, entdeckt hatten.
Ein dichter Dunstschleier verhüllte die untergehende rote Sonne, das Geschrei der in der Luft kreisenden Seevögel und das brausende tobende Meer hinter den Dünen erfüllte die Luft. In der Ferne wiegten sich die Kiefern und Buchen im steilen Westwind. In einiger Entfernung überlegte unsere Gruppe, das einsam gelegene Gehöft einmal in Augenschein zu nehmen. Mutig und voller Entdeckungsfreude liefen wir die Sandberge hinunter, dem verwunschen wirkenden Haus entgegen.
Plötzlich stand ich wieder in diesem dunklen Raum des modrig riechenden Hauses. Da, am Boden, zwischen Brettern und Gerümpel verscharrt, ragte eine Hand leblos und starr hervor.
Doch von Anfang an: Es war ein sonniger warmer Tag im Juni, und die Ferienzeit nahte. Dieses Jahr wollten wir vier Kinder mit den Eltern in Großvaters Haus auf der Insel Läsö den langersehnten Urlaub verbringen. Schon Tage zuvor erfüllte uns eine große Freude, und mit wahrer Begeisterung packten wir Koffer und Taschen, halfen der Mutter, wo wir konnten. Ohne Murren wurde das Haus von oben bis unten aufgeräumt und gesäubert, keine Arbeit war uns zu viel. Die Eltern wunderten sich sehr über unsere Bereitschaft, diese Pflichten zu übernehmen. Doch für uns bedeutete die Reise zu Großvater nach Läsö Freiheit, Sonne und Meer ohne jede Einschränkung.
An einem Sonnabend, die Sonne war noch nicht aufgegangen, wurden wir vier Kinder gegen drei Uhr morgens von Mutter geweckt. Bis auf Jella, unsere Jüngste, die mal wieder verträumt und müde herumlief, beeilten sich alle mit der Morgentoilette. Wir nahmen ein kurzes Frühstück ein, und schon bald verließen wir mit Vaters vollbeladenem Fahrzeug, die Stadt. Da wir vier kaum Platz auf der Rückbank hatten, bekam Jella einen Raum im Gepäckteil des VW-Variant.
„Bei der ersten Rast werden die Plätze getauscht“, entschied unser Vater schmunzelnd, der die ewigen Diskussionen und Streitereien aus dem Fond des Autos mithörte.
Für Jella hatte er ein richtiges Bett zum Liegen gebaut, das sie natürlich auch gleich nutzte. Beschützt und umgeben von Koffern, Taschen, Luftmatratzen, Bällen und Sandschaufeln träumte sie schon wieder vor sich hin. Ihr Haar hatte Mutter zu zwei Zöpfen geflochten, und in ihren blauen Augen spiegelten sich die ersten Sonnenstrahlen des frühen Morgens. Jella war glücklich in ihrem Nest im Gepäckteil des Autos.
Jorin, mein elfjähriger Bruder, weißblond wie Jella, mit einem lustigen Ausdruck in seinen grauen Augen, meldete sich zu Wort: „Der Nächste für den Liegewagen bin ich, Papa!“
„Du musst dich immer vordrängen“, maulte Hilger. „Mama, teile du die Reihenfolge ein“, entrüstete er sich. Hilger hatte die dunklen Haare von Vater geerbt, seine braunen Augen blickten gerade ziemlich wütend. Von uns vier Kindern war er der Temperamentvollste. Unsere Mutter drehte sich lachend zu uns um und fuhr ihrem Sohn liebevoll durch das dichte Haar.
„Wir machen ein Spiel beim nächsten Halten. Wer gewinnt, bekommt den Platz im Gepäckraum“, sagte sie.