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Zehn Jahre später
Es war Dienstagnachmittag Ende August, als der RE5 von München nach Salzburg in den Traunsteiner Bahnhof einfuhr. Nur wenige Fahrgäste stiegen aus, die meisten waren unterwegs nach Salzburg, wo die alljährlichen Mozart-Festspiele in vollem Gange waren. Der Zug fuhr weiter, und Toni stellte seinen prall gefüllten Wanderrucksack auf eine Bank, um seine Schuhe zu schnüren. Die hatte er irgendwann auf seiner Reise von Füssen nach Traunstein ausgezogen, um es sich auf den Sitzen bequem zu machen. Er war eingenickt und verdankte es nur der Aufmerksamkeit einer älteren Dame, der er von seinem Reiseziel erzählt hatte, dass er im letzten Moment in die Schuhe hinein- und aus dem Zug hinausspringen konnte.
Mit zwanzigtausend Einwohnern war Traunstein ein überschaubares Städtchen am Rand der Alpen. Zehn Jahre Abwesenheit war zwar eine beträchtliche Zeit, jedoch nicht lang genug, um den Weg vom Bahnhof zum Klinikum zu vergessen. An einem Kiosk kaufte Toni noch einen Strauß Blumen, um nicht mit gänzlich leeren Händen am Krankenbett seines Vaters zu erscheinen.
Der Anruf seiner Mutter Greta war vor einer Woche gekommen. Sie meinte, der Krebs habe sich bei Frank nicht angekündigt. Jäh und heftig sei er auf einmal da gewesen. Die Ärzte hielten sich bedeckt, was nicht unbedingt Gutes bedeute. Auch wenn Toni und sein Vater vor vielen Jahren im Streit auseinandergegangen waren, so hoffte er ehrlichen Herzens, dass der Krebs im Kampf um das Leben den Kürzeren ziehen würde.
Am Telefon hatte seine Mutter ihn gebeten, sofort zu kommen, doch Tonis Arbeitsvertrag als Bergführer bei einem Urlaubshotel in Füssen war noch eine knappe Woche gelaufen. Seit zehn Jahren hangelte er sich mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs dieser Art durchs Leben und konnte es sich nicht leisten, vorzeitig zu kündigen. Natürlich hatte er nach dem Anruf darüber nachgedacht, letztlich aber entschieden, die paar Tage noch zu warten.
Als Toni mit seinem Rucksack auf dem Rücken und dem Blumenstrauß in der Hand die Krankenhauskapelle der Klinik passierte, warf er einen Blick durch die offene Tür. Er konnte den Altar mit der Jesusfigur erkennen und zwei Personen, die auf einer Bank davor saßen. Die beiden, ein Mann und eine Frau, hatten ihm den Rücken zugewandt, doch Toni verlangsamte seinen Schritt. Einen unschlüssigen Moment zögerte er, dann trat er ein. Das Paar drehte die Köpfe in seine Richtung, und obwohl Toni es schon geahnt hatte, stockte ihm der Atem. Er starrte in die von Kummer gezeichneten Gesichter seiner Mutter und seines acht Jahre jüngeren Bruders Florian. Der Blumenstrauß entglitt seiner Hand und landete mit einem leisen Rascheln auf dem Steinboden. Flo erhob sich und kam ihm entgegen. Greta sah ihm nur mit steinerner Miene in die Augen.
»Was ist passiert?«, flüsterte Toni, nachdem Flo ihn flüchtig umarmt hatte. Natürlich konnte er sich die Antwort denken.
Flo seufzte. »Er ist heute Morgen nicht mehr aufgewacht.«
Toni schloss die Augen. »So schnell? Wie kann das sein?« Er hatte immer gehofft, sich mit seinem Vater irgendwann aussprechen zu können, schließlich war er damals nicht aus freien Stücken gegangen. Nun war es zu spät. War dieser blöde Arbeitsvertrag in Füssen wirklich so wichtig gewesen? Sein Blick glitt zu seiner Mutter, die jetzt mit langsamen Schri