Erstes Kapitel
Henry Gilder streckte den Arm aus, und seine Hand fand ohne weiteres den weißen Stock in dem Schirmständer. Er tastete seine Taschen ab, um sich zu vergewissern, dass er den Hausschlüssel eingesteckt hatte. Dann ging er durch den Flur auf die Etagentür zu.
Seine Haushälterin kam aus der Küche. Ihr dickes, gutmütiges Gesicht war voll Sorge.
»Wollen Sie wirklich noch ausgehen?«, fragte sie. »So spät abends? In einem Viertel, das Ihnen ganz fremd ist?«
Er wandte ihr sein Gesicht mit den blinden Augen zu und lächelte, als belustige ihn ihre Besorgtheit.
»Großer Gott, wir sind zwar aus einem Viertel in ein anderes gezogen, aber wir befinden uns immer noch in London. Und nicht irgendwo in Afrika. In Cricklewood gibt es keine wilden Tiere.«
»Vielleicht doch.« Mechanisch wischte sie sich mit dem feuchten Lappen, den sie aus der Küche mitgebracht hafte, über die Hände.
»Aber Francine! Seit mehr als zwanzig Jahren gehe ich nach dem Essen noch ein wenig aus und trinke ein Glas in einem Café. Ein Glas, vielleicht auch zwei, rauche ein wenig, schwatze ein wenig – soll ich darauf jetzt verzichten?«
»Bisher wurden Sie von Ihren Freunden begleitet, und in Camden kannten Sie jeden Pflasterstein. Aber hier ist es etwas anderes. Vielleicht nicht...? Sie sollten sich lieber erst mal etwas eingewöhnen... mit dem abendlichen Spaziergang warten, bis Sie die mit der neuen Umgebung einigermaßen vertraut sind...«
Er lachte und strich sich über den gepflegten Bart und Schnurrbart.
»Großartig! Ausgezeichnet! Ich soll das neue Viertel kennenlernen und dabei zu Hause hocken! Wie habe ich Camden so genau kennengelernt? Sie sind köstlich, Francine!«
Die Frau errötete. »Davon ist nicht die Rede. Sie hatten zuverlässige Freunde, wenigstens zu Anfang. Und dann gingen Sie auch bei Tage und nicht erst spät abends aus. Warten Sie einen Augenblick, bis ich mit dem Aufwaschen fertig bin, dann begleite ich Sie...«
Er beugte sich jetzt vor, ließ den weißen Stock über den Teppich schleifen, streckte die linke Hand aus und streichelte ihre runzligen Wangen.
»Liebe Francine! Ob Tag oder Nacht, das spielt für mich doch keine Rolle. Sie erwähnen meine Freunde. Tragen diese Freunde nicht auch den weißen Stock? Sie halten uns für hilflos. Habe ich Ihnen nicht längst das Gegenteil bewiesen? Zehn Jahre ist alles gutgegangen. Weshalb sollte es gerade heute schiefgehen?«
Jetzt musste seine gute alte Haushälterin, wenn auch noch immer besorgt, lächeln. »Trotzdem«, sagte sie. »Bleiben Sie vor allem in der Nähe. Gehen Sie ins nächstgelegene anständige Café. Und trinken Sie nicht zu viel!«
»Schon gut, alter Drachen.«
Er drehte sich um und öffnete die Etagentür, bevor sie ihm behilflich sein konnte. Während der vierundzwanzig Stunden, die sie in der neuen Wohnung wohnten, hatte er die Tür kaum zwei- oder dreimal geöffnet, und doch stellte er sich jetzt so geschickt an, als wäre sie ihm längst vertraut.
»Alter Drachen! Als wären wir verheiratet. Sie wollen mir nur wieder mal zeigen, wer der Herr im Hause ist.«
Sie lächelte, wartete, bis er das Treppengeländer gefunden hatte u