: Monika Maron
: Ach Glück
: Hoffmann und Campe Verlag
: 9783455012736
: 1
: CHF 9.90
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Und plötzlich stellt sich die Frage: Ist ein gelungenes Leben möglich? In das geordnete Leben von Johanna und Achim Märtin, stolpert durch Zufall ein schwarzer, zottiger Hund, den Johanna, an einen Abfalleimer an der Autobahn angebunden, fand. Durch die unerschöpfliche Freude und Liebe des tierischen Begleiters, hinterfragt Johanna ihre eigenen Glücksmomente, Hoffnungen und Sehnsüchte. Als sie dann noch die russische Aristokratin Natalia Timofejewna kennenlernt, die in Mexiko nach ihrer Jugendfreundin und Künstlerin Leonora Carrington suchen möchte, folgt Johanna dieser kurzerhand an das andere Ende der Welt. Achim hingegen irrt ratlos durch die Straßen Berlins und versucht an den vertrauten Plätzen zu ergründen, was Johannas Aufbruch zu bedeuten hat.

Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der Gegenwart. Sie wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik nach Hamburg und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentliche zahlreiche Romane und mehrere Essaybände. Ausgezeichnet wurde sie mit diversen Preisen, darunter der Kleistpreis (1992), der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg (2003), der Deutsche Nationalpreis (2009), der Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2011) und der Ida-Dehmel-Literaturpreis (2017). Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt die Erzählung Bonnie Propeller (2020) und der Essayband Was ist eigentlich los? (2021).

Fassen Sie sich ein Herz, hatte Natalia geschrieben,fassen Sie sich ein Herz, meine Liebe, und kommen Sie her.

Wenn das so einfach ginge, dachte Johanna, sich ein Herz fassen; irgendein kräftiges, abenteuerlustiges Herz, das einem Vorübergehenden in der Brust schlug, fassen und für sich selbst weiterschlagen lassen.

Wessen Herz soll ich mir fassen? schrieb Johanna zurück.

Und Natalia Timofejewna: Haben Sie denn kein eigenes?

Sie war fast neunzig und spindeldürr, saß in einem Internet-Café in Mexico City und fragte Johanna, ob sie kein Herz hätte.

Am Tag darauf schrieb sie ihr:Ich komme in zwei Wochen.

 

Und jetzt saß sie zusammen mit dreihundert anderen Leuten in diesem monströsen Blechbehälter zehn Kilometer über der Erde, trank Cola und kaute Erdnüsse, während sie die Flugnachrichten auf einem der Monitore verfolgte, als hielte sie es tatsächlich für normal, sich in einem fliegenden Kino fortzubewegen.

Ihre Hände waren kalt, die Finger ineinander verschränkt wie zum Gebet. Immer, wenn das Flugzeug startete, suchten ihre Finger einander, anfangs unbewusst, und nachdem sie bemerkt hatte, dass ihre Hände sich jedes Mal, wenn das Flugzeug in steiler Schräglage in den Himmel stieß, auf diese aus ihrer Kindheit stammende Demutsgeste besannen, hielt sie es für leichtsinnig, sie daran zu hindern. Wenn sie es unbedingt wollten, auch ohne ihr Zutun, half es ja vielleicht. Die Möglichkeit abzustürzen, nur weil sie ihren Händen verbot, ihrem Urbedürfnis zu folgen und sich ineinander zu verschlingen, ließ sie vor dem Experiment zurückscheuen, auch wenn sie das Ganze eigentlich für Unfug hielt.

Sie war eine ungeübte Alleinreisende. Sie war noch nie allein geflogen, immer hatte Achim neben ihr gesessen; einmal Laura, als sie ihr zum Abitur das Wochenende in London geschenkt hatten und Achim zwei Tage vorher krank geworden war.

Zum ersten Mal allein fliegen. Zum ersten Mal nach Mexiko. Im Alter verging die Zeit wahrscheinlich so schnell, weil man fast nichts mehr zum ersten Mal tat. Monatelang, jahrelang wiederholte man, was man schon tausendmal getan hatte, sodass die Monate und Jahre sich wie eine Folie über ein altes, vollkommen gleiches Muster legten und mit ihm verschmolzen, als hätte es sie gar nicht gegeben.

Jeden Morgen die gewohnte Sorte Tee oder Kaffee kochen, die einmal abonnierte Zeitung lesen, zur gleichen Zeit mit der gleichen Arbeit beginnen, am Abend die gleichen Freunde treffen oder einen alten Film sehen und sich erschrecken, weil man sich nur noch an Bruchstücke erinnern kann. So war es. Sogar, als sie plötzlich in einem anderen Staat lebten und von der Kaffeesorte bis zur Zeitung alles anders wurde und sie sogar in eine andere Wohnung in einem anderen Stadtbezirk zogen, war es nach kurzer Zeit wieder so. Sie tranken anderen Kaffee, lasen andere Zeitungen, aber wenn sie beim Frühstück einander gegenüber saßen, war es wie in all den Jahren davor, als hätten sie ihr Leben in eine andere Sprache übersetzt, in der sie nun die alten Sätze sagten. Sie klangen nur anders.

Bis vor vier Monaten war es so.

Vielleicht wäre auch ohne Bredow alles so geworden, wie es jetzt war; wer konnte das wissen. Aber fest stand, dass mit Bredow – seit sie ihn von dem Abfalleimer befreit hatte, an den ihn jemand auf dem Parkplatz an der Autobahnausfahrt Bredow gebunden hatte – die Serie von Erstmaligkeiten b