: Benjamin von Stuckrad-Barre
: Remix
: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
: 9783462318999
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 336
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Alltag, Rausch, Fernsehen, Pop, Liebe& das Gegenteil, Produkte& Personen, Welt sind die Themen, denen sich Benjamin von Stuckrad-Barre in Reportagen, Porträts, Kurzgeschichten, Pamphleten, Glossen, Kleinanzeigen und Lexikoneinträgen annimmt - mal streng unsachlich, mal nüchtern, hier liebevoll, dort vorlaut. Manche Artikel sind zuerst in Magazinen und Zeitungen erschienen, doch »Remix« heißt natürlich: Texte nicht nur zweitverwertet, sondern überarbeitet (Single-edits, Maxi-Versionen), nachgebessert (Sound! Rhythmus! Refrains!), geschliffen, veredelt. »Remix« ist eine kompakte Best-of-Sammlung, die jedoch allenfalls eine Zwischenbilanz darstellt. Seine Fortsetzung findet das Werk in »Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft - Remix 2« (2004) und 'Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal hinlegen - Remix 3' (2018).»Für Journalistenschüler und ihre Lehrer lässt sich jedenfalls kein schöneres Geschenk denken als ?Remix?, eine Sammlung der glanzvollsten Artikel Stuckrad-Barres.« taz

Benjamin von Stuckrad-Barre, 1975 in Bremen geboren, ist Autor von »Soloalbum«, 1998, »Livealbum«, 1999, »Remix«, 1999, »Blackbox«, 2000, »Transkript«, 2001, »Deutsches Theater«, 2001, »Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft - Remix 2«, 2004, »Was.Wir.Wissen«, 2005, »Auch Deutsche unter den Opfern«, 2010, »Panikherz«, 2016, »Nüchtern am Weltnichtrauchertag«, 2016, »Udo Fröhliche«, 2016, »Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen - Remix 3«, 2018 und »Alle sind so ernst geworden« (mit Martin Suter), 2020.

99


Silvester


Bis vor drei Sekunden war ich extrem glücklich. Es war nicht bloß ein schönes Fest gestern abend, gestern nacht, ja sogar heute morgen noch, nein, es war viel mehr: endlich mal ein würdiger Silvesterabend mit netten Menschen, nicht zu fonduesaturiert, aber auch nicht allzu unübersichtlich. Die Hoffnung auf ein angenehmes Silvester hatte ich bislang immer als in etwa so aussichtsreich erlebt wieVIVA zu gucken und auf ein Lieblingslied zu warten. Das Warten selbst ist die Hölle, und wenn es dann kommt, das Lied, das Fest, ist man gerade auf dem Klo oder schon so blöd gelaunt, daß es eh nichts mehr nützt. Oder es wird von Werbung zerfetzt, das Lied – bzw. von frühmorgendlichen Beziehungsrochaden überschattet, das Silvesterfest.

Wir haben hier in dieser Badewannenfabrik gefeiert, und obwohl im Vorfeld jeder von uns diese gutklingende Aussicht mit Vorfreude und Illusionsballast zugeschaufelt hatte, war es keineswegs eine Enttäuschung. Zunächst sowieso erst mal die Freude darüber, daßÜBERHAUPT etwas griffbereit war, und das so früh schon. Die letzten Jahre waren diesbezüglich gen Ende immer gleich verlaufen:

– Was machst’n du dieses Jahr an Silvester (an Silvester, wie das auch immer schon klingt, so wie »in Mode machen«, womit ja keineswegs, kleiner Scherz, und Achtung: Inkontinenz gemeint ist. Alle lachen, vielen Dank, danke)?

– Ach ja, Silvester, keine Ahnung. Wißt ihr was?

– Also dieses Jahr ist mir echt alles egal, muß nichts Großes sein, Hauptsache, wir müssen nicht wieder mittags am 31.12. wild durch die Gegend telefonieren, uns überall dazuladen und von den meisten den Satz »Wir haben auch noch nichts« anhören.

– Das kommt wirklich nicht in Frage diesmal. Horror. Dann von einer Feier zur nächsten, nirgends richtig sein, weil es ja noch irgendwo besser sein könnte, und um Punkt zwölf sitzt man ganz bestimmt gerade im Taxi, von einem schlechten Fest zu einem noch schlechteren nächsten.

– Jaja. Und dann die große Depression.

– Eigentlich bedeutet mir Silvester gar nichts.

– Mir doch auch nicht, aber wenn überall geböllert und gefeiert wird, dann muß man entweder mitmachen oder halt weit wegfahren, ganz weit weg.

So ging es jedes Jahr. Und dann – nach leicht variablem Mittelteil – der unvermeidliche Schlußakkord:

– Ein Haus mieten!

JAAAA, ein Haus, in Dänemark, mit Freunden, nicht so viele, mal was Entspanntes.

– Ja, Dänemark, oder eine Berghütte. Eine Berghütte wäre super.

– Und alle würden ihre Uhren verstecken, und man würde einfach so eine nette Zeit haben und endlich anerkennen, daß es ja vollkommen egal ist, ob man sich jetzt um 0.00 Uhr küßt oder um 1:37 Uhr, oder ob man schon um halb elf müde ins Bett fällt.

Da sind sich alle immer einig gewesen, daß es das wäre. Im Grunde. Optimal wäre eigentlich: eine BerghütteIN Dänemark. Gemacht hat es aber noch nie jemand, den ich kenne. Ich hätte sonst auch den Kontakt abgebrochen, denke ich, denn das stelle ich mir ehrlich gesagt doch ziemlich schaurig vor. Am meisten Angst hätte ich vor dem Wort »besinnlich«. Und nicht nur vor dem Wort, viel mehr noch vor dem Zustand. Das Tolle an einem lauten Großstadtgebänge an Silvester ist ja, daß der dramaturgische Verlauf vollkommen festgezurrt ist – bis halb zwölfMUSS man einfach durch sein mit dem ganzen Schrott:

– Bleigießen (mit einem Superdeutungskatalog: etwa »Biene=schlaues Handeln führt zum Erfolg«. Erstens: Den möchte ich mal sehen, der eine Biene bleigießt, und zweitens, wo hat man so was schon gehört, daß schlaues Handeln zum Erfolg führt, bislang war man ja fest davon ausgegangen, d