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Der Zug hielt mit einem Ruck. Als wäre der Lokführer an der Station Rothenheim lieber vorbeigerauscht und hätte sich erst im letzten Moment dazu durchringen können, doch die Bremse zu ziehen.
Verständlich, fand Jona, obwohl das Haltemanöver ihn fast von den Füßen gerissen hätte. Er packte seinen Aluminiumkoffer fester und spähte nach draußen.
Grau, alles. Graue Straßen, graue Häuser, graues Wetter. Die Fotos in der Hochglanzbroschüre, die die Victor-Franz-Hess-Privatuniversität ihm gemeinsam mit ihrer Einladung zugeschickt hatte, hatten irgendwie anders ausgesehen.
Jona hängte sich seinen Rucksack um und stieg aus dem Zug. Hinaus in den Nieselregen.
Keine Spur von den Helmreichs. Klar. Wenn die Bahn schon einmal pünktlich war, musste sich seine Gastfamilie verspäten. Alles andere hätte nicht ins Bild gepasst und erst recht nicht in Jonas Leben.
Seufzend marschierte er auf das Bahnhofsgebäude zu und hielt Ausschau nach den beiden Durchschnittsgesichtern, die er auf den Facebookprofilen der Helmreichs betrachtet hatte. Silvia und Martin. Wahrscheinlich hatten sie heute Morgen aus dem Fenster gesehen, daraufhin einen depressiven Schub erlitten und beschlossen, ihrem Leben ein frühes Ende zu setzen.
»Vernünftige Entscheidung«, murmelte Jona, während er unter dem Bahnhofsvordach Schutz vor dem stärker werdenden Regen suchte. Fünf Minuten vergingen. Zehn. Voller Widerwillen zog er schließlich sein Handy aus der Hosentasche.
Silvia Helmreich. Er wählte die eingespeicherte Nummer an, lauschte dem Freizeichen. Dreimal, viermal. Dann schaltete sich die Sprachbox ein.
Guten Tag, ich kann im Moment leider nicht ans Telefon gehen, sprechen Sie Ihre Nachricht bitte nach dem Signalton.
Eine hohe Stimme in einer so aufdringlich gespielten Fröhlichkeit, dass Jona seine Vorsätze, einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen, unmittelbar über Bord warf.
»Hallo. Hier ist Jona Wolfram, Sie erinnern sich? Nein? Also, ich bin der, den Sie eigentlich um 16 Uhr 25 vom Bahnhof hätten abholen sollen. Zumindest haben Sie das mit meinen Eltern so besprochen, persönlich hatten wir ja noch nicht das Vergnügen. Aber machen Sie sich keine Gedanken, beenden Sie ruhig vorher Ihre Shoppingtour oder Ihre Pediküre, ich warte einfach noch ein bisschen. Gleich neben mir sitzt ein netter, bärtiger Mann, der mir angeboten hat, seinen Doppelliter Rotwein mit mir zu teilen. Also keine Eile!«
Noch bevor er die Verbindung trennte, wusste Jona, dass diese Aktion dumm gewesen war. Vor allem die Sache mit Shopping und Pediküre, die würde man ihm übel nehmen. Konnte ja auch sein, dass gerade die Oma vom Lkw überfahren worden war.
Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Begriff wieder einmal nicht, warum seine Intelligenz, die ihm im Alter von siebzehn Jahren ein Vollstipendium an einer Eliteuni einbrachte, ihn in ganz alltäglichen Situationen ständig im Stich ließ.
Er behielt das Smartphone in der Hand und überlegte sich ein paar überzeugend klingende Entschuldigungen, während er auf Silvia Helmreichs erbosten Rückruf wartete.
Obwohl – auf ein Gespräch mit ihr legte er überhaupt keinen Wert. Eine Rückmeldung anderer Art wäre ihm hingegen sehr gelegen gekommen. Jona seufzte. Warum hatte er nicht gleich daran gedacht, Silvia in seine Sammlung aufzunehmen?
Er rief noch einmal ihre Nummer auf, über seine ganz spezielle Nachrichten-App.
Bin am Bahnhof, kann Sie leider nirgendwo sehen. Ist alles in Ordnung? Liebe Grüße, Jona Wolfram.
Kaum zwei Minuten später verkündete sein Smartphone per Glockenton, dass eine SMS eingetroffen war.
Tut mir leid, werde gleich da sein. Fünf Minuten, höchstens zehn. Freue mich darauf, dich kennenzulernen! Silvia.
Sie hatte geantwortet. Jona grinste zufrieden in sich hinein. Jetzt gehörte sie ihm. Ja, sie würde ihn kennenlernen. Und er sie noch viel besser.
Er überlegte sich, ob er nicht gleich auc