: Cecelia Ahern
: Zeit deines Lebens Roman
: Piper Verlag
: 9783492602990
: 1
: CHF 8.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein gefühlvoller Roman darüber, wie kurz das Leben und wie wertvoll jeder Moment ist Lou Suffern ist ein Überflieger: erfolgreich im Job, schnelle Autos, zahlreiche Geschäftsreisen. Doch seine Familie sieht er viel zu selten, und auch der Geburtstag seines Vaters kümmert ihn kaum. An einem kalten Dezembermorgen lernt er den Obdachlosen Gabriel kennen. Lou fühlt sich auf eine merkwürdige Weise mit ihm verbunden und verschafft dem Mann einen Job. Damit nimmt Lous Leben eine neue Wendung, denn wundersame Ereignisse lassen ihn alle Entscheidungen überdenken ...

Cecelia Ahern erzählt Geschichten über Menschen, die gerade durch eine Phase der Veränderung gehen. Sie selbst beschreibt ihre Bücher mit den Worten: »Ich fange meine Figuren dort auf, wo sie gefallen sind, und begleite sie von ganz unten wieder zurück. Ich mische gern Dunkelheit und Licht, Trauer und Humor.« Cecelia Ahern ist eine der erfolgreichsten Autorinnen der Welt. Sie schreibt zeitgenössische Romane, Novellen, Storys, Jugendbücher, TV-Konzepte und Theaterstücke. Ihre Romane wurden fürs Kino oder fürs Fernsehen verfilmt. Cecelia Ahern hat Journalistik und Medienkommunikation studiert und lebt mit ihrer Familie in Dublin.

3


Der Truthahnjunge


Raphie betrat den Verhörraum wie sein Wohnzimmer – als würde er sich gleich auf die Couch sinken lassen und zum Feierabend die Füße hochlegen. In seinem Auftreten lag nichts auch nur ansatzweise Bedrohliches. Er war zwar mit seinen knapp eins neunzig ziemlich groß, aber er füllte den Platz nicht aus, den sein Körper einnahm. Wie üblich hielt er den Kopf nachdenklich gesenkt, und seine Augenbrauen rutschten, der Schwerkraft gehorchend, fast über die Augen. Sein Rücken war leicht gebeugt, als trüge er dort zum Schutz einen kleinen Panzer, und der Panzer am Bauch war noch deutlich dicker. In der einen Hand hielt er einen Pappbecher, in der anderen seine halb volle NYPD-Tasse.

Der Truthahnjunge glotzte auf Raphies Keramikstreifenwagen. »Wie uncool ist das denn?«

»Jemandem einen Truthahn durchs Fenster zu schmeißen ist auch nicht grade der Inbegriff der Coolness.«

Der Junge griente und begann, am Kapuzenband seines Sweatshirts zu kauen.

»Warum hast du das gemacht?«

»Weil mein Dad ein Arschloch ist.«

»Ich hab mir schon fast gedacht, dass es kein Weihnachtsgeschenk für den Vater des Jahres war. Aber wie bist du auf die Idee mit dem Truthahn gekommen?«

Der Junge zuckte die Achseln. »Meine Mum hat gesagt, ich soll den Truthahn aus dem Gefrierschrank holen«, bot er als Erklärung an.

»Wie ist er dann aus dem Gefrierschrank auf den Fußboden im Haus deines Vaters gekommen?«

»Den größten Teil des Wegs hab ich ihn getragen, den Rest ist er geflogen.« Wieder das Grienen.

»Wann wolltet ihr ihn denn essen?«

»Um drei.«

»Ich hab gemeint, an welchem Tag? Pro fünf Pfund Truthahn rechnet man mindestens vierundzwanzig Stunden Auftauzeit. Dein Truthahn wog fünfzehn Pfund. Wenn ihr ihn heute essen wolltet, hättet ihr ihn schon vor drei Tagen aus dem Gefrierschrank nehmen müssen.«

»Wie auch immer, Ratatouille.« Er musterte Raphie, als hielte er ihn für verrückt. »Wenn ich ihn noch mit Bananen gefüllt hätte, würde ich dann weniger Ärger kriegen?«

»Ich hab das nur erwähnt, weil er nicht hart genug gewesen wäre, wenn du ihn rechtzeitig aus dem Gefrierschrank genommen hättest. Für die Geschworenen hört sich das jetzt womöglich an, als hättest du die Sache gezielt geplant. Und nein, Bananen-Truthahn ist kein gutes Rezept, finde ich.«

»Ich hab es aber nicht geplant!«, kreischte der Junge und ließ sich zum ersten Mal anmerken, wie jung er in Wirklichkeit war.

Raphie trank seinen Kaffee und beobachtete den Truthahnwerfer.

Der schnupperte an dem Pappbecher und rümpfte verächtlich die Nase. »Ich trinke keinen Kaffee.«

»Okay.« Raphie nahm das Pappding vom Tisch und schüttete den Inhalt in seinen eigenen Becher. »Ist noch warm. Danke. Also, dann erzähl mir mal von heute früh. Was hast du dir dabei gedacht, Söhnchen?«

»Falls Sie nicht dieser andere fette Wichser sind, dem ich den Truthahn ins Fenster geschmissen habe, dann bin ich ganz sicher nicht Ihr Sohn. Und was soll das hier überhaupt sein, eine Therapiestunde? Oder ein Verhör? Steh ich vielleicht unter Anklage, oder was?«

»Wir warten noch auf verbindliche Nachricht von deinem Vater, ob er Anzeige erstatten möchte oder nicht.«

»Wird er nicht.« Der Junge verdrehte die Augen. »Weil er es nämlich gar nicht kann. Ich bin noch nicht sechzehn. Wenn Sie mich jetzt gehen lassen, verschwenden Sie wenigstens nicht Ihre Zeit.«

»Von meiner Zeit hast du schon eine ganze Menge verschwendet.«

»Es ist Weihnachten, da bezweifle ich, dass es für Sie besonders viel zu tun gibt.« Er schaute auf Raphies Bauch. »Außer Donuts essen.«

»Du würdest dich wundern.«

»Zum Beispiel?«

»Irgendein Idiot hat heute Morgen einen Truthahn durch ein Fenster geworfen.«

Der Junge verdrehte wieder die Augen und sah zu der Uhr, die an der Wand tickte. »Wo sind meine Eltern?«

»Die wischen das Fett von ihrem Fußboden.«

»Das sind nicht meine Eltern«, stieß er hervor. »Jedenfalls istsie nicht meine Mutter. Wenn die mich hier abholen will, geh ich nicht mit.«

»Oh, ich bezweifle stark, dass die beiden dich abholen und mit nach Hause nehmen«, meinte Raphie, griff in die Tasche und holte ein eingewickeltes Schokobonbon heraus. Langsam packte er es aus, und das Papier knisterte in dem stillen Raum. »Ist dir schon mal aufgefallen, dass die mit Erdbeergeschmack immer als Letzte in der Packung übrig bleiben?« Lächelnd steckte er sich das Bonbon in den Mund.

»Garantiert bleibt überhaupt nichts übrig, wenn Sie in der Nähe sind.«

»Dein Vater und seine Partnerin –«

»Die eine Nutte ist, nur damit Sie’s wissen«, fiel der Truthahnjunge Raphie ins Wort und beugte sich dicht zum Aufnahmegerät.

»Vielleicht kommen sie vorbei, um Anzeige zu erstatten.«

»Das würde Dad nie tun.«

»Er zieht es zumindest in Erwägung.«

»Nein, tut er nicht«, quengelte der Junge. »Und wenn doch, dann hat sie ihn dazu gebracht. Diese Schlampe.«

»Ich denke, es ist wahrscheinlicher, dass er es tut, weil es jetzt in sein Wohnzimmer schneit.«

»Schneit es draußen?« Jetzt sah er wieder aus wie ein Kind, mit großen, hoffnungsvollen Augen.

Raphie lutschte an seinem Bonbon. »Manche Leute beißen einfach rein in die Schokolade, aber ich lutsche sie lieber, am besten möglichst langsam.«

»Ach, lutschen Sie doch den«, knurrte der Truthahnjunge und packte sich zwischen die Beine.

»Mit diesem Anliegen solltest du dich vielleicht lieber an einen Freund wenden.«

»Ich bin aber nicht schwul«, schnaubte sein Gegenüber. Aber dann beugte er sich vor, und das Kind kehrte zurück. »Ach, kommen Sie, schneit es draußen echt? Lassen Sie mich raus, damit ich es mir ansehen kann, ja? Ich schau auch bloß aus dem Fenster.«

Raphie schluckte den Bonbonrest hinunter und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Dann sagte er mit ernster Stimme: »Das Baby hat was von den Glasscherben abgekriegt.«

»Und?«, knurrte der Junge, aber sein Gesicht war besorgt, und er begann, an einem Nagelhäutchen herumzuzupfen.

»Der Kleine war neben dem Weihnachtsbaum, direkt dort, wo der Truthahn gelandet ist. Zum Glück hat er sich nicht geschnitten. Der Kleine, nicht der Truthahn. Der Truthahn war ziemlich schwer verletzt. Wir glauben nicht, dass er durchkommt.«

Der Junge sah erleichtert und gleichzeitig verwirrt aus.

»Wann holt meine Mum mich ab?«

»Sie ist unterwegs.«

»Die Frau mit den Riesendingern …« – er legte sich die gewölbten Hände vor die Brust – »… hat mir das schon vor zwei Stunden erzählt. Was ist eigentlich mit ihrem Gesicht passiert? Habt ihr zwei es zu wild getrieben?«

Raphie ärgerte sich darüber, wie der Junge über Jessica redete, aber er beherrschte sich und blieb ruhig. Der Knabe war es nicht wert. Lohnte es sich tatsächlich, ihm die Geschichte zu erzählen?

»Vielleicht fährt deine Mutter heute besonders langsam und vorsichtig. Die Straßen sind ziemlich glatt.«

Der Truthahnjunge sah nachdenklich und wieder ein bisschen ängstlich aus. Er knibbelte weiter nervös an seiner Nagelhaut.

»Der Truthahn war zu groß«, sagte er nach einer langen Pause. »Mum hat die gleiche Größe gekauft wie sonst, als Dad noch zu Hause war. Sie dachte nämlich, er würde zurückkommen.«

»Deine Mutter hat gedacht, dein Vater würde zu euch zurückkommen?«, hakte Raphie nach, aber es war eigentlich mehr eine Feststellung als eine Frage.

Der Junge nickte. »Als ich den Truthahn dann aus dem Gefrierschrank genommen habe, bin ich plötzlich durchgedreht. Er war einfach viel zu groß.«

Wieder Schweigen.

»Ich hab...