: Maya Shepherd
: Der Tanz der verlorenen Seelen
: tolino media
: 9783739442204
: 1
: CHF 1.60
:
: Märchen, Sagen, Legenden
: German
: 81
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Margery fand sich an einem wundersamen Ort wieder, von dem sie nicht gewusst hatte, dass er existierte. Vor ihr erstreckte sich ein blühendes Feld. Es waren unzählige Mohnblumen. Alle erstrahlten in der verbotenen Farbe - Rot. »Spürst du den Windhauch?«, fragte Ember, während sie langsam durch die Wiese schritt. Sie hatte ihre Arme ausgebreitet, sodass sie mit den Fingerspitzen die Blüten im Vorrübergehen berührte. »Der Wind kommt von den vielen Seelen, welche über diese Wiese tanzen. Es sind die ruhelosen Geister der Mädchen, die deine Mutter in ihrem Keller getötet hat. Ihr Blut hat die Blumen rot gefärbt. Sie müssen nun sieben Jahre über dieses Feld tanzen, erst dann sind sie frei und dürfen in ein nächstes Leben weiterziehen.«

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Tochter und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.

Der Turm der Erdenmutter


Irgendwo in den Sieben Weltmeeren auf dem Rücken eines Wals, Januar 1594

Wir hielten uns nah an dem gewaltigen Stamm, als wir uns Blatt für Blatt der Rapunzelpflanzen immer weiter den Baum emporkämpften. Unter uns befand sich die tosende See. Weit und breit war kein Land, nicht einmal ein Schiff, in Sicht. Das bedeutete immerhin, dass Vlad Dracul uns wohl noch nicht gefunden hatte. Dabei hatten wir bereits einen ganzen Tag mit dem Aufstieg verbracht. Erst als es so dunkel geworden war, dass wir nichts mehr hatten erkennen können, hatten wir uns dicht aneinander gekauert auf einem der Blätter niedergelassen und für wenige Stunden versucht, Schlaf zu finden. Es war mir nicht gelungen, da die Angst, hinabzustürzen, zu groß gewesen war.

Zudem hatte mein Magen vor Hunger geknurrt. Ich hatte versucht, mir ein Stück von den gewaltigen Rapunzelpflanzen abzureißen, doch sie waren zu fest gewesen. Nur so konnten sie unser Gewicht tragen. Nicht einmal Dorian mit seinen übermenschlichen Vampirkräften hatte daran etwas ändern können.

Für ihn musste der Aufstieg noch viel anstrengender sein, denn er trug zusätzlich den Glassarg mit dem schlafenden Jungen auf seinem Rücken. Sosehr es mich auch erleichterte, kein Schiff zu sehen, bedauerte ich es zugleich. Insgeheim hatte ich gehofft, dass es Jacob Grimm gelingen würde, uns rechtzeitig zu finden, sodass wir gemeinsam die neue Welt hätten betreten können.

Unsere Bekanntschaft war nur kurz gewesen, nicht einmal eine Stunde lang, trotzdem dachte ich oft an ihn. Nicht nur wegen seines Bruders, sondern auch weil ich zwischen uns eine Vertrautheit empfunden hatte. Es war nicht wie bei Dorian, dem ich auf den ersten Blick verfallen war, sondern mehr eine Verbundenheit der Seelen.

Jacob war mir gegenüber ehrlich gewesen, während ich ihn belogen und behauptet hatte, ein Kind zu erwarten. Ohne mich zu kennen, hatte er mir genug Vertrauen entgegengebracht, um das Wichtigste bei mir in Obhut zu geben, das er hatte – Wilhelm. Er hatte nichts von der Prophezeiung über mich gewusst, von dem Unheil, das ich über die Welt bringen würde. Er hatte mich so gesehen, wie ich jetzt war – und das, obwohl ich nicht einmal mehr eine Seele besaß.

Irgendwann würde der Tag kommen, an dem der Teufel mich spüren ließ, was es bedeutete, einen Handel mit ihm eingegangen zu sein. Er war geduldig, da Zeit für ihn keine Rolle spielte. Jahre könnten vergehen, sodass ich mich in Sicherheit wiegen würde und beinahe vergessen hätte, was einst inmitten der Sieben Weltmeere geschehen war. Vielleicht wartete er nur auf den richtigen Augenblick. Dann, wenn ich am wenigsten mit ihm rechnete.

Diese Ungewissheit legte sich wie ein schwarzer Schatten über mein Herz. Er dämpfte meine Hoffnung und schürte meine Angst.

Am Abend des zweiten Tages, als die Sonne bereits zu sinken begann, erreichten wir die Wolken. Sobald wir sie durchbrachen, waren wir wie in einen dichten Nebel gehüllt, der uns das Vorankommen erschwerte. Wir konnten nicht weiter sehen als von einem Blatt zum nächsten.

Vorsichtig setzten wir einen Fuß vor den anderen und versuchten trotz der Erschöpfung, nicht unsere Konzentration zu verlieren. Nur ein unbedachter Schritt konnte unseren Tod bedeuten.

Wir hatten nun seit fast achtundvierzig Stunden nichts me