: Maya Shepherd
: Der Gesang der Sirenen
: tolino media
: 9783739430126
: 1
: CHF 0.80
:
: Märchen, Sagen, Legenden
: German
: 71
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Dort zwischen der Gischt entdeckte ich ein bleiches weibliches Gesicht. Die Sirene hatte leuchtende Augen, so grün wie Algen. Ihr Haar war rot wie Blut. Es floss in sanften Wellen über ihren Körper, der nackt war, soweit ich es erkennen konnte. Sie war eine Schönheit und es fiel mir leicht, zu verstehen, warum Männer ihr und ihrem Gesang verfielen. Doch wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass sie spitze Zähne in ihrem Mund trug. Zähne, die zum Töten gemacht waren. An ihrem Hals hatte sie Kiemen wie ein Fisch. Sicher war ihr Körper kalt wie der Tod. Die Sirenen waren seelenlos, deshalb vermochten sie nicht mehr, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Sie hatten geliebt und waren so bitter enttäuscht worden. Das Leben hatte für sie nur Leid übrig gehabt und nun waren sie in ewiger Rachsucht gefangen. »Stürze dich in die Fluten und schenke der Meerhexe deine Seele. Sie wird dir im Gegenzug die Gunst des ewigen Lebens erweisen.«

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Tochter und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.

Der Gesang der Sirenen


Irgendwo in den Sieben Weltmeeren, Dezember 1593


Die Wellen knallten gegen den Rumpf des Schiffes. Die Gischt schlug beinahe so hoch, dass ich sie abbekommen hätte. Seitdem wir Hamburg verlassen hatten, herrschte starker Wellengang. Gleich, ob in der Nacht oder am Tag, schaukelte dieFahrender Tod übers Meer.

Das Zwischendeck, in welches wir uns zum Schlafen zurückzogen, war nicht einmal einen Meter fünfzig hoch, sodass wir uns nur gebückt fortbewegen konnten. Wenn das Schiff jedoch hin und her geworfen wurde, war es ein Ding der Unmöglichkeit, sich dabei nicht den Kopf zu stoßen. Deshalb war ich dazu übergegangen, auf meinen Händen und Knien zu krabbeln – zur Belustigung der Seemänner. Sie beäugten mich nach wie vor voller Skepsis, jedoch sprach keiner von ihnen mit mir.

Ich nahm an, dass Kapitän Blaubart es ihnen verboten hatte. Er ließ sich nur selten blicken. Die meiste Zeit verbrachte er in seiner Kajüte, die in zwei Räume unterteilt war. Zum einen gab es dort das Speisezimmer, in dem Dorian und ich jeden Abend mit dem Kapitän speisten, zum anderen seinen privaten Raum, in dem er ein richtiges Bett stehen hatte. An unserem ersten Abend hatte er mir großzügigerweise angeboten, es mit mir zu teilen. Als er meinen entsetzten Gesichtsausdruck gesehen hatte, war er in Gelächter ausgebrochen.

»Was für eine Unschuld«, hatte er gehöhnt und sich gar nicht mehr einkriegen können.

Dorian ging auch tagsüber häufig zum Kapitän. Ich wusste nicht, was sie miteinander besprachen, aber es schien wichtig zu sein. Wenn er nicht dort war, half er auf dem Schiff aus. Seine übermenschliche Stärke ermöglichte es ihm, die härtesten Arbeiten mühelos auszuführen.

Die meiste Zeit verbrachte ich allein. Das Schiff, welches mich zu Beginn durch seine immense Größe beeindruckt hatte, erschien mir mehr und mehr wie ein Käfig. Ich lief über das Oberdeck, von der einen zur anderen Seite – tagein, tagaus. Rund um uns herum befand sich nichts als der blaue Ozean. Es war nirgendwo ein Stückchen Land zu sehen, geschweige denn ein Turm, der bis in den Himmel reichte.

Die weißen Segel blähten sich im Wind und trieben uns vorwärts, jedoch ohne dass ich hätte erkennen können, dass wir unserem Ziel auch nur ein Stückchen näher gekommen wären.

Wie sollte man auch etwas finden, wenn man nicht wusste, wo man danach suchen musste? Unser Unterfangen erschien mir immer sinnloser. Einen Turm mitten in den Sieben Weltmeeren zu suchen, war schwieriger, als eine Nadel in einem Heuhaufen zu finden. Wenn nicht gar unmöglich.

Maria Harms hatte gesagt, dass die Erdenmutter all jenen helfe, die ihre Hilfe verdienten. Was, wenn Dorian und ich ihrer nicht würdig waren? Was, wenn das Böse bereits in meiner Seele wohnte und sich langsam immer mehr ausbreitete? Was, wenn wir etwas getan hatten, das den Lauf des Schicksals beeinflusste?

Vielleicht hätten wir mit dem gestohlenen Pferd bis nach Hamburg reiten müssen, um so früher den Hafen zu erreichen und ein anderes Schiff als dieFahrender Tod besteigen zu könne