: Maya Shepherd
: Dornen, Rosen und Federn
: tolino media
: 9783739445571
: 1
: CHF 1.60
:
: Märchen, Sagen, Legenden
: German
: 93
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Zwischen all den weißen Schwänen tauchte auf einmal ein schwarzer auf. Sein Gefieder schimmerte beinahe bläulich im silbrigen Mondlicht. Er hatte einen roten Schnabel und ebenso rot glühende Augen, die er nun auf mich richtete, als würde er mich kennen. Sein Anblick verursachte mir eine Gänsehaut. »Warum ist dieser Schwan schwarz?«, wandte ich mich an Baba Zima. »Er symbolisiert das Böse, welches du in dir trägst«, antwortete sie mir mit rauer Stimme.

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.

Sonne und Mond


Engelland, Mai 1796


Der Tod, welcher eine Frau war, hatte mich aus Mitleid mit meinem ungeborenen Kind verschont. Die Wölfe, die mich hätten zerfleischen sollen, waren nun dazu verdammt, mich mit ihrem Leben zu beschützen. Solange Vlad Dracul mich tot glaubte, waren wir vor ihm und seinen Vampiren erst einmal in Sicherheit.

Trotzdem fühlte ich mich nach seinem Angriff nicht mehr so zuversichtlich und hoffnungsvoll wie bei meiner Ankunft in Engelland. Ich hatte geglaubt, dass hier alles anders werden würde.

Es war Dorians und meine Welt. Wir waren naiv genug gewesen, zu glauben, dass wir die Insel nach unseren Vorstellungen und Gesetzen formen könnten. Aber es gab weder hier noch irgendwo eine Zukunft für mich. Ich würde sterben. Jeder Tag, den ich noch lebte, war gestohlene Zeit. Der sechzehnte Geburtstag meiner Tochter würde mein Todestag sein.

Es tat weh, zu wissen, dass mir nur so wenige Jahre mit ihr und Dorian blieben. Ich würde sie niemals heiraten oder selbst ein Kind bekommen sehen. Vielleicht könnte ich sie nicht einmal über ihren ersten Liebeskummer hinwegtrösten.

Am meisten schmerzte es jedoch, Dorian zu sehen. Er litt unter dem Versprechen, das er mir hatte geben müssen: Er würde nichts unternehmen, um mich zu retten. Jeder Versuch, mein Leben zu bewahren, könnte den Tod unserer Tochter bedeuten. Er musste mir beim Sterben zusehen. Vielleicht wäre es ohnehin so gekommen, aber wir hatten erwartet, ein Leben zusammen zu haben, und nicht nur ein paar Jahre.

Manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, betrachtete er mich, als wäre ich bereits tot. Ich konnte den feuchten Glanz in seinen Augen nicht ertragen.

Meine eigene bekümmerte Stimmung schien sich auf Engelland zu übertragen. Die Tage waren trist und die Nächte lang und finster. Der Sommer hätte Einzug halten sollen, stattdessen pfiffen kalte Winde über das Land. Eine dichte Wolkendecke hüllte uns ein, die unsere Welt grau und farblos erscheinen ließ. Die Pflanzen wuchsen nur schlecht und nicht einmal meine Blutäpfel waren noch genießbar, seitdem sich alles Rote in unserer Welt golden verfärbt hatte.

Nur der Tod war noch rot. Es war ihre Farbe. Die verbotene Farbe.

Je mehr Menschen auf unsere Insel kamen, umso mehr Verbrechen ereigneten sich. Das Böse breitete sich wie eine Krankheit aus. Es gedieh gut in der Dunkelheit und schlug seine Wurzeln in die Herzen der Menschen.

Engelland hatte weder eine Sonne, welche den Menschen bei Tag hätte Wärme spenden können, noch einen Mond, der die Nacht erhellte. Hatte die Erdenmutter sie schlicht bei der Erschaffung unserer Welt vergessen oder war es Absicht gewes