Julianna
Hennersdorf bei Wien,
Ende des 19. Jahrhunderts
Das neue Mädchen hat gestern gesagt, dass nichts ihr Herz schwerer werden lässt als der letzte Tag des Sommers. Jener Tag, an dem man in jedem einzelnen Knochen spürt, dass die Tage kürzer werden. Und dass die Sonne ihre Macht verloren hat. Dann erkennt man, dass der Herbst sich unbemerkt herangeschlichen hat und darauf lauert, sich gänzlich über das Land zu legen.
Ich liebe diese Tage. Wenn der Herbst da ist, ist der Winter nicht mehr fern. Endlich. Gut neun Monate muss ich jedes Jahr auf die kalte Jahreszeit warten. Denn ich blühe erst auf, nachdem die Bäume ihre Blätter abgeworfen und die Blumen sich zurückgezogen haben. Deswegen bin ich heute schon wach, obwohl es noch ganz ruhig im Schlafsaal ist. Es herrscht jene Stille, die sich nur in den Morgenstunden einstellt, wenn alle zweiundzwanzig Kinder im Tiefschlaf sind. Nicht mehr lang und es werden unzählige Kinderstimmen durch den Raum schallen, einige kreischend und um Aufmerksamkeit heischend, andere flüsternd, um ja nicht aufzufallen.
Trotz der frühen Stunde schlage ich die dünne Wolldecke zurück. Zischend sauge ich die Luft ein, als meine bloßen Füße den eisigen Boden berühren, und tapse auf Zehenspitzen an den eisernen Bettgestellen vorbei zum Fenster am Ende des Raumes. Mit einem leisen Quietschen löst sich der Haken aus dem Ring und ich schiebe die mit Eisblumen übersäten Fensterflügel zur Seite, um sicherzugehen. Klirrende Kälte beißt in meine Arme, dennoch strecke ich meinen Kopf nach draußen und schnuppere.
Die Erleichterung lässt mich lächeln.
Frost.
Es liegt eindeutig der Geruch von Frost in der vollkommen klaren Luft. Gepaart mit einer dezenten Rauchnote, da die Menschen wieder heizen. Noch werden Bäume und Häuser in die grauschwarze Nacht getaucht, aber ich bin mir sicher, dass darunter messerspitzer Raureif die kahlen Äste, Wiesen und Häuser überzieht. Und das zum fünften Mal in Folge. Perfekt! Ich schließe das Fenster und kehre zu meinem Bett zurück. Hastig streife ich die Bluse aus festem Stoff über und steige in Rock und Unterrock. Dann noch das wollene Tuch, bald würde mir ohnehin warm werden. Ich greife nach dem Beutel mit meinem wertvollsten Gut neben der kleinen Bronzefigur meiner Mutter und presse ihn an meine Brust. Als ich zur Tür des Schlafsaals schleiche, gleitet mein Blick über die selig schlafenden Mädchen. Die Haare mal blond, mal schwarz, mal braun oder gar rot. Darin mögen sie sich unterscheiden, doch davon abgesehen sind sie alle gleich.
Nur ich gehöre nicht zu ihnen.
Und das nicht nur, weil mein Äußeres zeigt, dass ich aus Asien stammen muss. Es ist eher innerlich. Ich spüre, dass ich anders bin. Anders denke und fühle als die restliche Gruppe. Deswegen bin ich seit jeher eine Außenseiterin. Es wäre schön, eines der Kinder an der Schulter zu berühren und gemeinsam ins Abenteuer zu ziehen. Doch der Schein trügt. Jetzt mögen sie aussehen, als könnten sie keiner Fliege etwas zuleide tun, aber sobald sie aufwachen, schlagen sie um sich.
Als ich das Bett direkt vor der Tür passiere, halte ich inne. Die Neuen müssen sich stets mit den schlechtesten Betten zufriedengeben und ganz unten in der Hackordnung beginnen. Marilenas Arm ist von einer Gänsehaut überzogen, ihr Körper muss sich vermutlich noch an die kärgliche Ausstattung des Waisenhauses gewöhnen. Kein Wunder, dass sie den Winter verabscheut. Rasch kehre ich an mein Bett zurück, greife nach meiner Wolldecke und breite sie über Marilena aus, ziehe ihr die Decke bis ans Kinn. Wenn man gut geschlafen hat, lassen sich die schneidenden Kommentare und Sticheleien leichter ertragen. Das habe ich in den fünfzehn Jahren im Waisenhaus gelernt. Lautlos schließe ich die Tür hinter mir, schlüpfe in die Küche und nehme mir ein Stück Brot mit. Das Essen im Heim ist nicht gut, aber immerhin gibt es welches.
»Na, gehst du wieder aufs Eis?« Die Stimme, die plötzlich hinter mir erklingt, lässt mich zusammenzucken. Ich drehe mich um und entdecke ausgerechnet Krystof im Flur. Er ist wie ich schon fünfzehn, aber dazu auch der Tonangeber unter den Jungen, der nie zögert, seine Fäuste einzusetzen. Mit verschränkten Armen lehnt er an der Wand und mustert mich abschätzig. »Willst wohl eine Berühmtheit werden wie deine Mami? Wie passen eigentlich so große Träume in einen halben Meter Mensch?«
Zorn