Kapitel 4
Vor 19 Jahren
»Warum kann ich dich nicht sehen?«, fragte Kjara in den Schrank hinein.
Akuma kicherte. Er hatte es sich auf ihrem Bett bequem gemacht. »Hier bin ich, dummes Ding.«
Mit übertriebener Empörung wirbelte Kjara herum. »Ich will dich sehen. Warum kann ich dich nicht sehen, Akuma?«
»Weil ich es nicht möchte.«
»Warum?«
»Weil du dann Angst bekämst.«
»Ich habe keine Angst vor Gespenstern.« Kjara verschränkte die Hände vor der Brust und schob die Unterlippe vor.
»Ich bin kein Gespenst.«
Sie ließ die Arme sinken. »Was dann?«
Akuma zögerte. Die Schriftstellerfamilie war vor einem Jahr hier eingezogen und er hatte bislang nichts unternommen, um ihnen den Schrecken ihres Lebens einzujagen. Er gestand sich ein, dass es ihn unterhielt, sich mit Kjara auszutauschen. Sie war zwar ein Kind, aber sie war ein Mensch. Und Menschen hatten immer eine faszinierende Wirkung auf ihn gehabt.
Anfangs hatte er das Mädchen meist aus der Distanz heraus beobachtet und selten Kontakt aufgenommen. Beispielsweise, wenn sie sich mit ihren Eltern stritt und statt zum Messer zu greifen, schimpfend auf ihr Zimmer rannte. Und manchmal, wenn sie nach Einbruch der Dunkelheit am Fenster stand und schweigend die Sterne betrachtete, so als könnte sie in ihnen etwas erkennen, das seinen Augen verborgen blieb.
Menschen benahmen sich völlig anders als die Dämonen der Hölle, die niemals still waren und Gewalt bevorzugten.
Kjara hatte jeden Abend versucht, Akuma zum Sprechen zu bewegen, seit er ihr aus dem Schrank heraus seinen Namen mitgeteilt hatte. Meist saß er ruhig da und beobachtete das Mädchen. Es wäre simpel gewesen, sie dahingehend zu manipulieren, ihre Eltern abzuschlachten. Oder Besitz von ihr zu ergreifen und das Massaker selbst zu begehen. Im Grunde genügte ein kleiner Spuk und die gesamte Familie würde Reißaus nehmen.
Aber wen hätte er dann weiter studieren sollen? Er wollte weitaus mehr erfahren, denn die Menschen verwirrten ihn. Sie zeigten Regungen, die ihm fremd waren, nannten das ›Gefühle‹, und ihr Leben bestand nicht aus Folter und Niedertracht. Er würde die Familie eine Weile bei sich wohnen lassen, um sie zu studieren. Und erst wenn er alles begriffen hatte, würde er sie töten – durch Kjaras Hand.
»Sag schon Akuma«, quengelte das Mädchen. »Was genau bist du denn?«
Akuma seufzte. »Ich bin ein Dämon.«
Das Mädchen sog zischend Luft ein. Sofort überkam ihn ein seltsames Empfinden, fast als schrumpften seine Innereien zusammen. Hätte er das lieber nicht sagen sollen?
»Cool!«, rief sie und klatschte in die Hände.
Akuma entspannte sich. »Du findest das cool?« Er schnaufte. Das Mädchen war ein seltsames Exemplar ihrer Art. Von den Menschen, die er in der Hölle gefoltert hatte, hatte sich niemand über seine Gattung gefreut. Möglicherweise war die Folter der Grund dafür gewesen, überlegte er.
»Klar! Ich habe einen Dämon als Freund!«
Akuma verengte die Augen zu Schlitzen. »Freund? Du denkst, ich wäre dein Freund?« Mit einem Mal überkam ihn der Drang, Kjara die Zunge herauszureißen.
Schon einmal hatte jemand dieses Wort zu ihm gesagt, das war lange her; nicht lange genug, um zu vergessen. Kjara brabbelte über Pyjama-Partys und Süßigkeiten-Orgien, er hörte es kaum. Er beobachtete, wie ihre Zunge auf und ab wippte, während sie sprach. Wie das Blut durch die Halsschlagader pumpte. Oh ja, es wäre ein Leichtes, sie au