: Brigitte Möhr
: Und jetzt erst recht
: Vicon
: 9783952592106
: 1
: CHF 2.40
:
: Hauptwerk vor 1945
: German
Nun ging es nämlich nicht mehr nur um Buchhaltung und ein Kundenverhältnis. Jetzt ging es auch um seine Finanzen! Zwölf Minuten vor dem vereinbarten Zeitpunkt traf Sandra an der Bergstrasse in Arosa ein. Sie stellte ihren heissen Flitzer auf den Besucherparkplatz und drückte nervös auf den einzigen angeschriebenen Klingelknopf des mehrstöckigen Gebäudes. Sie war noch nie hier gewesen. Die etlichen unadressierten Briefkästen liessen vermuten, dass sich im Gebäude hauptsächlich Ferienappartements oder Zweitwohnungen befanden. Allerdings blieb ihr keine Zeit, sich über die Belanglosigkeit dieser Beobachtung Gedanken zu machen. Thomas Gnädinger öffnete die Türe. Er trug einen mattschwarzen Anzug, ein gestärktes blütenweisses Hemd und eine in verschiedenen Grautönen gestreifte Krawatte. Dazu auf Hochglanz polierte, italienische Lederschuhe und einen Gürtel mit einer eleganten Schnalle aus satiniertem silbrigen Metall. Seine ganze Erscheinung liess ihn autoritär und kompetent wirken. Leichten Schrittes stieg Sandra hinter ihm die Treppe zu seiner Wohnung im zweiten Stockwerk hoch; so weit noch guter Dinge. Sie folgte ihm in sein Büro und setzte sich auf den angebotenen dunkelbraunen Ledersessel. Während Thomas ihr einen Kaffee besorgte, glitt ihr Blick durch den Raum. Das Büro war teuer, für ihren Geschmack jedoch etwas zu rustikal eingerichtet. Ein riesiger Tisch aus massivem Eichenholz - das dominanteste Möbelstück - stand mitten im Raum. An der rechten Wand und unterhalb des Fensters waren flächendeckend massangefertigte Holzschränke angebracht. Darin waren wohl sämtliche Kundendaten fein säuberlich abgelegt. Der penibel aufgeräumte Schreibtisch liess zumindest darauf schliessen. Von der Decke hing eine antik anmutende Schmiedeisenlampe mit einem kupfernen Schirm, welche durch ihren dunkelgelben Glaszylinder hindurch ein dumpfes Licht verbreitete. Auf der linken Seite des Tisches, an der einzig freien Wand, hing ein überdimensionales Bild. Ein Original, wie sie vermutete. Sie kannte sich zwar in Sachen Kunst nicht aus, aber die abstrakten Jagdszenen des berühmten Malers Guido Colani waren sogar ihr ein Begriff. Der weiche hellgraue Teppich gab dem Raum die einzig leichte Note. Alles andere wirkte schwerfällig und wuchtig und ein beengendes Gefühl breitete sich in ihr aus. Mit unsanftem Klappern stellte Thomas ein Tablett auf den Tisch. 'Zucker und Milch?', wollte er wissen. Sandra nickte knapp. Gedankenverloren liess sie den Zucker aus dem Streuer auf ihren Kaffeelöffel rieseln und kippte ihn zweimal in die dunkle Flüssigkeit. Dann schenkte sie sich so viel Milch ein, dass der Kaffee eher als Milch mit Kaffeearoma durchgegangen wäre und nur noch lauwarm war. Als sie dreimal umgerührt hatte, setzte Thomas zu seiner Hiobsbotschaft an: 'Es fällt mir selber schwer, das zu glauben, aber du bist pleite.' 'Ich? Pleite? Unmöglich!!' Sandras Kaffeelöffel landete klirrend auf dem Unterteller. 'Du hast mir doch selbst gesagt, dass meine Mama 250'000 Franken pro Jahr verdient hat. Und so viel habe ich noch bei Weitem nicht ausgegeben.' 'Darf ich dich darauf hinweisen, dass ich damals von Umsatz und nicht von Gewinn gesprochen hatte?' Er verdrehte ungläubig die Augen. Sein schlimmster Verdacht schien sich soeben zu bewahrheiten. 'Auf meinem Konto ist noch Geld drauf, wie kann ich da pleite sein?' 'Da war zumindest noch welches drauf, bis ein stattlicher Betrag in Höhe von über sechzigtausend Franken zugunsten einer BMW-Garage abgebucht wurde. Das hatte zur Folge, dass Ende Oktober noch genau 2'389 Franken auf deinem Geschäftskonto waren.' 'Eben. Dann bin ich ja noch im Plus. Was jammerst du denn?' Sandra kniff ihren Mund zusammen. Ihre ansonsten vollen Lippen wirkten dünn und farblos. 'Die Zahlung der Oktoberlöhne konnte nicht ausgeführt werden. Ein Wunder, dass sich deine Angestellten noch nicht beschwert haben. Ausserdem wird demnächst die Jahresrechnung für die Pensionskassenbeiträge ins Haus flattern und du wirst deinen Mitarbeiterinnen den versprochenen 13. Monatslohn plus den normalen Lohn für Oktober, November und Dezember ausbezahlen müssen. Die Mehrwertsteuer für das dritte Quartal ist fällig und du bist mir die Miete für den Frisiersalon und obendrein auch diejenige für deine Wohnung seit Anfang Jahr schuldig. Ganz zu schweigen von AHV, Krankenversicherungsrechnungen und Steuern.' Er blätterte mit suchendem Blick in seinen Unterlagen: 'Grob geschätzt reden wir hier von knapp 100'000 Franken.' Der Klang seiner Stimme erhielt eine bittere Färbung. 'Wie lautet dein Plan, um diese bis Weihnachten zu beschaffen?' 'Erstens: Was kann ich dafür, dass das Geschäft rückläufig ist? Anscheinend war der Erfolg irgendwie an die Persönlichkeit meiner Mama gekoppelt. Und zweitens: Was soll das heis- sen, dass ich dir die Jahresmiete für Wohnung und Geschäft schuldig bin? Ich habe alle Rechnungen, die hereingeflattert sind, stets termingerecht bezahlt.' 'Wie du dich sicher erinnern kannst, wollte deine Mutter seinerzeit dieses spezielle Arrangement mit der Einjahreszahlung. Als wir beide nach der Beerdigung gemeinsam die Finanzen durchgegangen sind, habe ich dich gefragt, wie ich den neuen Mietvertrag ausstellen solle', verteidigte er sich gegen Sandras unterschwellige Anschuldigung. 'Du hast ausdrücklich darauf bestanden, alles möglichst so zu lassen, wie deine Mutter es gehabt hatte, da sie damit scheinbar gut gefahren war.' Thomas atmete tief durch, um sich selber zu beruhigen. 'Und obendrein habe ich heute Morgen von Leonie ungefragt erfahren, dass du dich im Salon schon lange ziemlich rar machst und ich dich nur auf deinem Handy erreichen könne. Bloss Chefin spielen und selber nicht mehr mitarbeiten geht in so kleinen Läden selten gut.' 'Und warum zum Geier hast du mich nicht früher gewarnt?', erwiderte sie giftig, 'du bist doch mein Treuhänder, nicht wahr? Wäre das nicht deine Aufgabe gewesen?' 'Erst mal wollte ich mich nicht in dein Privatleben einmischen. Und als du dann erwähnt hast, dass du auf die Malediven willst, dachte ich, eine kleine Reise könnte nicht schaden und würde dir helfen, deine Trauer zu verarbeiten. Ich konnte nicht ahnen, dass du dem Betrieb so lange fernbleiben würdest.' Thomas schaffte es nur mit Anstrengung, ruhig zu bleiben. 'Im Weiteren ging ich davon aus, dass du über das Geschäftliche Bescheid weisst. Wie ich jetzt jedoch vermute, handelt es sich dabei um einen Trugschluss. Gehe ich recht in der Annahme, dass du vom Business deiner Mutter nicht allzu viel Ahnung hast?' Sandra senkte den Kopf und nickte widerwillig. 'Und was jetzt?' Thomas hatte mit dieser Frage gerechnet. 'Zuallererst wirst du dir wohl überlegen müssen, ob dir deine Arbeit so viel bedeutet, dass du daran festhalten und die Firma wieder auf Kurs bringen oder ob du den Salon aufgeben willst. Bedenke, dass dein Salon eine Einzelfirma ist. Das heisst, dass du auch mit deinem privaten Vermögen dafür haftest. Ausserdem musst du zwangsläufig deinen momentanen Lebensstil überdenken.' Sandra schluckte leer. Die Worte wollten ihr kaum über die Lippen kommen: 'Bis wann muss ich mich entscheiden?' 'Heute ist Freitag. Vor Montagmorgen lässt sich ohnehin nichts regeln. Bitte ruf mich bis Sonntagabend an und sag mir, ob ich dir durch diese Krise helfen soll oder ob du jemand anderen dafür suchst. Ich werde mir bis dahin ebenfalls überlegen, was sinnvoll und was machbar ist.' Schwerfällig hievte er sich aus seinem wuchtigen Ledersessel. 'Für den Moment kann ich nicht mehr für dich tun.' Sandra erhob sich ebenfalls und folgte ihm zur Türe. Sie erwiderte seinen Händedruck. 'Ich werde mich melden', meinte sie geknickt. Sie stieg in den Fahrstuhl und fuhr nach unten. Draussen war es kalt und dunkel. Sie fröstelte. Ein kurzer, schwarzer Rock, eine schwarz-weisse Baumwollbluse im Animalprint und eine stylische Bikerlederjacke waren zweifellos die falsche Wahl gewesen. Sie hatte vergessen, dass Arosa auf 1800 m. ü. M. lag und es da empfindlich kühler war als im südwindverwöhnten Chur. Einen kurzen Augenblick lang fühlte sie sich hilflos wie ein kleines Kind, dem man soeben erklärt hatte, dass es fortan ohne seinen Schnuller klarkommen musste. Verzweiflung wollte sich in ihr breitmachen. Doch dann nahmen Trotz und Aufbegehren überhand. Bei ihrem BMW angekommen stampfte sie auf und in einem Anflug von Zorn trat sie mit voller Kraft gegen den linken Vorderreifen ihres Cabrios. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Fuss von der grossen Zehe bis zum Knöchel. Ihre spitzen, taubengrauen Designerwildlederstiefeletten waren wohl nicht zu diesem Zweck entworfen worden. 'Scheisse, Scheisse, Scheisse!', schrie sie lautstark durch die Nacht. Etwas anderes wollte ihr zu ihrer augenblicklichen Situation partout nicht einfallen. Sie war wütend auf alle und alles und am meisten auf Thomas, der ihr diese üble Nachricht überbracht hatte. Aufgebracht setzte sie sich in den Wagen, drehte energisch den Schlüssel im Zündschloss und liess den Motor aufheulen. Mit quietschenden Reifen fuhr sie los. Sie drehte die Musik so laut, dass sie es gerade noch knapp ertragen konnte. Das Brummen des Basses verschmolz mit ihrem Herzschlag. Sie musste sich beruhigen. Sofort! Das war allerdings leichter gesagt als getan. Ihr derzeitig ach so genussvolles Leben sollte jetzt einfach vorbei sein? Und noch viel schlimmer. Es sollte nicht nur auf den Vorher-schon-gehabt-Level zurückfallen, sondern in unbekannte Minussphären schlittern! Auflehnung und Störrigkeit verwandelten sich in flottem Tempo in Angst und Panik. Allerlei unschöne Szenarien zogen fetzenartig vor ihrem geistigen Auge vorbei. Sie stellte sich vor, wie sich die Leute hinter vorgehaltener Hand zutuschelten, dass sie, die unfähige Tochter, das Geschäft ihrer Mutter ruiniert hatte! Sie sah, wie sie als Angeklagte im Gerichtssaal sass und ihre beiden Angestell- ten mit Anwälten gegen sie prozessierten. Und sie malte sich aus, wie jedes Mal, wenn es an der Haustüre klingelte, ein Lieferant davorstand, der sein Geld wollte, oder der Postbote mit Bergen von eingeschriebenen Briefen, Mahnungen und Bankbelegen mit Minuszahlen. Sie war ein unfähiger, kläglicher Nichtsnutz. Eine Enttäuschung auf ganzer Linie. Sie hatte sich noch nie so abscheulich gefühlt. So wertlos und zutiefst niedergeschlagen und unglücklich. Ihre Situation war ausweglos. 'Vielleicht sollte ich abhauen oder auswandern. Hier wird man mich nur noch als Versagerin sehen.' Sandra merkte nicht, dass sie laut mit sich selber sprach. Die Musik übertönte den Klang ihrer Stimme. Sie lenkte den Wagen mit schlafwandlerischer Sicherheit um die Kurven. Die Strasse war menschenleer, kein Verkehr mehr um diese Zeit. Wahrscheinlich lagen alle friedlich zuhause in ihren kuschelig warmen Betten. Sie verspürte Neid. Auf all jene, die ach so sorglos schliefen und keinerlei Probleme hatten. Eine dünne Mondsichel am Himmel warf ein spärliches Licht und produzierte gleichzeitig gespenstische Schatten. Nebelschwaden zogen den unzähligen kleinen Bächen und Rüfen entlang, krochen die steilen Felswände und wilden, zerklüfteten Bergeinschnitte hinauf. Das Herbstlaub auf der Strasse war feucht und rutschig. Sandra brauchte ihre ganze Aufmerksamkeit, um den Wagen auf Kurs zu halten. Und dann passierte es. Sie fuhr aus einer engen Linkskurve heraus, als er plötzlich da war. Mit ein paar eleganten Sätzen sprang er aus der Wiese. Direkt vor ihren Wagen. Sie hatte keine Chance. Der Rehbock leider auch nicht. Sandra trat zwar voll in die Eisen, konnte einen Zusammenstoss jedoch unmöglich verhindern. Sie touchierte den Rehbock auf Höhe des rechten Scheinwerfers. Instinktiv riss sie das Steuer herum. Sie realisierte noch, wie das arme Tier über die Haube flog und durch den Aufprall auf der Windschutzscheibe an den rechten Strassenrand geschleudert wurde. Im gleichen Augenblick ent- faltete sich der Airbag explosionsartig. Sie konnte nichts mehr sehen. Sie spürte, wie der Wagen schlingerte, von der Strasse abkam und über weichen Boden holperte. Das Tal war hier sehr eng und sie wusste, dass es auf der linken Seite unendlich steil in die Tiefe hinunterführte. Das wars dann wohl. Bye bye Welt. Ein ohrenbetäubendes Krachen, welches sogar ihre Musik übertönte, war das Letzte, was sie wahrnahm. Jürg Hartmann hatte ein paar Kunden in Arosa mit Frischfleisch und Kartoffeln beliefert und sich anschliessend in der Aussicht, seinem Lieblingsrestaurant, eine Sennenrösti mit Spiegelei gegönnt. Er schaute auf die Uhr. 22.15 Uhr. Er sollte sich wohl besser auf den Weg nach Hause machen. Um 5.00 Uhr wurde er wieder im Stall erwartet. Er trat vor die Gaststube hinaus. Der Wind hatte aufgefrischt. Wahrscheinlich würde es bald zu schneien beginnen. In den nächsten Tagen würde er wohl die Winterpneus montieren müssen, überlegte er, als er sich hinter das Steuer seines Toyota Landcruiser klemmte. Die Strasse war nass und rutschig. Er kannte die Strecke, wusste, wo die kritischen Stellen waren. Dennoch fuhr er lang- samer als unbedingt nötig. Er wollte nichts riskieren. Während er sich in Gedanken den Arbeitsplan für den nächsten Tag zurechtlegte, blieben seine Augen wachsam. Auf der Strecke zwischen Peist und St. Peter erweckte etwas Dunkles, Grosses plötzlich seine Aufmerksamkeit. Es lag bewegungslos am rechten Strassenrand. Ein Tier? Er fuhr nahe an die Stelle heran, parkte seinen Wagen, schaltete den Pannenblinker ein und stieg aus. Ja, seine Vermutung war richtig gewesen. Es handelte sich um einen Rehbock. Blutverschmiert und mausetot. Er blickte sich um. Erst da entdeckte er auf der Teerstrasse eine lange, helle Kratzspur, die von einem Metallteil stammen musste, und als er ihr folgte, tiefe Reifenspuren in der nassen Erde neben der linken Fahrbahn. Er hastete den Spuren entlang und blickte den Hang hinunter. Ein weisses Auto lehnte zusammengestaucht an der einzigen Tanne, die im abschüssigen Gelände stand.