ENTFALTUNG
Zwei Wochen später ist aus dem düsteren Wohnzimmer ein lichtdurchfluteter Raum geworden. Die teppichbespannten Wände sind einem hellen Anstrich gewichen, die braune Holzdecke hat Ursula kurzerhand weiß übermalen lassen, ein zart rosafarbener Teppichboden liegt über dem dunklen Parkett. Die Innenarchitektin hat ihr eine leinenfarbene Dreiersitzgruppe empfohlen, Couchtisch, Sideboard und Eckregale aus Acryl. Moderne Bodenvasen und Designerlampen bezeichnete sie als Hommage an die Wohnlichkeit. Für Ursula ist es ein ungeheuerliches Gefühl, als sie zum ersten Mal mit einer Tasse Tee auf ihrer neuen Couch im fertig umgestalteten Wohnzimmer sitzt. Fast fühlt sie sich, als sei sie in eine neue Haut geschlüpft – wenn da nicht noch der schwarze Flügel stehen würde. Es ist der Flügel ihres Schwiegervaters. Walter konnte zwar nicht Klavier spielen, aber es wäre für ihn nie in Frage gekommen, sich von diesem Instrument zu trennen. Ursula hätte ihn liebend gern hergegeben, aber selbst die Innenarchitektin war dagegen gewesen: »Sie sollten sich zunächst einmal erkundigen, was der Flügel wert ist. Sonst lacht sich nachher jemand ins Fäustchen!«
»Ist mir egal«, hatte Ursula unwillig geantwortet, »von mir aus können Sie ihn verschenken, Hauptsache, er ist weg!«
Dabei sah sie aus, als wollte sie Mephisto persönlich aus dem Haus jagen. Die Innenarchitektin betrachtete ihre Auftraggeberin kurz: den etwas langweiligen Haarschnitt, das unauffällig geschminkte Gesicht mit dem etwas schiefen Mund.
»Ich werde Ihnen jemanden schicken, der sich damit auskennt«, sagte sie dann in einem geduldigen, fast mütterlichen Tonfall, obwohl sie die Tochter hätte sein können.
Ursula bemüht sich, einfach nicht zu dem schwarzen Monstrum hinzuschauen.
Es gibt ja auch so genug zu sehen.
Sie trinkt genießerisch ihren Tee, streift die Schuhe ab, setzt sich etwas seitlich auf die Couch und legt die Beine hoch. Unbeschreiblich!
Nächsten Montag wird sie wieder in die Firma gehen. Nach drei Wochen ist es allerhöchste Zeit. So lange hat sie sich in ihrem ganzen Leben noch keinen Urlaub gegönnt. Ursula schließt die Augen und denkt 30 Jahre zurück, sieht sich und Walter wieder in den grauen Fabrikhallen, die sie eben gekauft haben, sieht die herausgebrochenen Fenster, die kaputten Leitungen, den beschädigten Betonboden. Sie hatten auf ihre Hochzeitsreise verzichtet, hatten sich die Geschenke bar ausbezahlen lassen, und auf die Fürsprache von Walters Vater hin hatte ihnen eine Bank einen Kredit gewährt. Sie wollten eine Verpackungsfirma aufmachen, das erschien ihnen in den sechziger Jahren als zukunftsträchtig. Der Krieg war lange vorbei, es gab wieder Waren, immer mehr Artikel, die sich gegenseitig Konkurrenz machten, und verkauft wurde offensichtlich das, was im Regal herausstach, schöner, bunter, edler verpackt war. Plastik stand hoch im Kurs. Walter und Ursula kauften sich entsprechende Maschinen, sie schacherten wie die Bürstenbinder um jeden Pfennig, sie schufteten Tag und Nacht, akquirierten, holten Aufträge, kamen kaum noch mit der Produktion nach, brauchten Mitarbeiter, kauften neue Maschinen, bezahlten ihren ersten Bankkredit zurück und nahmen einen neuen, größeren auf. Irgendwann war die Zeit reif für einen Neubau, und dann eröffnete Walter ihr, sie könne jetzt zu Hause bleiben und Kinder bekommen. Aber es kamen keine Kinder, und sie ging wieder in die Firma. Ursula wollte genau wissen, wofür ihr Geld ausgegeben wurde. Sie war bei allen Einstellungen mit dabei. Ohne ihr Okay durfte noch nicht einmal eine Putzfrau ihren Putzlumpen auswringen. Und selbst als Walter sich mehr und mehr aus der Firma zurückzog, um sich seinen Hobbys zu widmen, hat sie die Zügel nie aus der Hand gegeben. Ihr Geschäftsführer, Manfred Kühnen, sollte immer wissen, daß ihm jemand auf die Finger sah. Manchmal tat sie es ganz offen, manchmal mehr im Verborgenen, aber sie war immer präsent.
Einem plötzlichen Impuls folgend steht Ursula auf und geht in das Arbeitszimmer. Ganz oben im Regal stehen in drei Reihen Fotoalben. Sie steigt auf die Trittleiter, zieht wahllos einige heraus und geht zurück zu ihrer Couch. Die Alben hat sie angelegt, weil Walter herumliegende Fotos nicht leiden konnte. Aber sie hatte sie danach nie mehr in die Hand genommen, und Walter auch nicht. Sie nimmt ihre Te