Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn leiden konnte. Seine ganze überspannte Familie, die vor allem sich selbst im Kopf hatte. Der Abend strotzte nur so vor Geistlosigkeit, und Leska verkniff sich ein Gähnen. Ihr Blick glitt vom festlich weiß gedeckten Tisch durch die großen Fenster auf den See, der kleine Schaumkronen trug und am gegenüberliegenden Ufer von sanft aufsteigenden Bergen begrenzt wurde. Rot-weiß gestreifte Fahnen flatterten im Wind, ansonsten rührte sich auf der üppig mit Blumen geschmückten Terrasse nichts. Sie war menschenleer. Leska fragte sich, wo sie jetzt lieber wäre. Aber es fiel ihr nichts ein, sie musste ja froh sein, dass sie hier sein durfte, reichlich zu essen bekam und vielleicht heute Nacht ein Dach über dem Kopf hatte. Ein leichtes Unbehagen signalisierte ihr, dass sie beobachtet wurde. Sie sah nach rechts und begegnete Valentins Blick. Er hatte sie am Nachmittag in Zell am See aufgegabelt. Einfach so. Zwischen all den urlaubenden verschleierten Frauen aus muslimischen Ländern war sie vielleicht die Einzige gewesen, deren Gesicht er sehen konnte, anders war es nicht zu erklären, denn besonders hübsch fand sie sich im Moment nicht. Eher ausgelaugt, müde, traurig. Sie hielt seinem intensiven Blick stand. Die Tiefe seiner dunkelbraunen Augen, sein offenes Gesicht, sein sanftes Lächeln schienen ihr im Moment das Einzige zu sein, was Halt versprach. Und sein Alter. Sie lagen nur drei Monate auseinander, sie Zwilling, er Löwe, beide 23. Sie hatten sich zwischen all dem Wahnsinn knatternder Oldtimer, enthusiastischer Fans, fachsimpelnder Fahrer auf dem Platz vor dem Congress Center gefunden. Das heißt, dachte Leska, sie war da ja nur durch Zufall hingeraten, mehr oder weniger auf der Durchreise. Aber da hatte Valentin schon quasi vor ihr gekniet, mit einer Startnummer in der Hand, die er nach den ausführlichen Anweisungen eines Mannes auf die Seitentür eines roten Auto kleben sollte: »Pass auf, dass es keine Blasen gibt!« Und: »Schau, dass es nicht schräg hängt!« Und: »Sie sollten auf beiden Türen in etwa auf der gleichen Stelle sein!« Und: »Pass auf den Lack auf!« In dem Moment trafen sich ihre Blicke. Er in der Hocke, sie stehend, abwartend, fasziniert von dem, was wichtig sein könnte. Ihr waren völlig andere Dinge wichtig, wo sie ihre nächste Mahlzeit herbekam, zum Beispiel. Oder wo sie schlafen konnte. Oder überhaupt, wie ihr Leben weitergehen sollte. Und da saß einer und jonglierte mit einer auf Kunststoff gedruckten schwarzen Nummer, als ob das das Wichtigste auf der Welt sei.
»Kannst du mal prüfen, ob die Nummer auf beiden Seiten gleich hoch ist?«, fragte er sie, als ob sie dazugehörte. Leska überlegte kurz, dann nickte sie und ging vor dem Auto hin und her, um beide Türen sehen zu können. »Etwas höher«, wies sie ihn an. »Und etwas weiter nach vorn!« Schließlich: »Ja, so passt es!«
Der Mann wandte sich ihr zu. Sein rotes Polohemd spannte über dem Bauch, und seine welligen weißen Haare fielen füllig in den Kragen. »Und zu wem gehörst du?«
»Zu wem?« Leska reckte sich. »Zunächst mal zu mir selbst.«
»Er meint, zu welchem Team«, erklärte Valentin und stand auf. Er war größer, als sie gedacht hatte. Und die Lässigkeit seiner Kleidung war wohlüberlegt. Ein reicher Schnösel, schoss es Leska durch den Kopf. Nichts für mich.
Und jetzt saß sie hier. Mit Valentins Vater, der sich zum Dinner umgezogen hatte und einen weißen Leinenanzug über einem giftgrünen Hemd trug, und mit seiner Mutter, die sich in ein schwarzes Kleid gezwängt hatte, das kein Atmen mehr zuließ. Und mit der weiteren Familie, dem Onkel und dessen Frau. Ihr war langweilig, die Gespräche waren langweilig, und alles, was es zu essen gab, mochte sie nicht. Sie wollte weder Austern noch Hummer und beruhigte ihren hungrigen Bauch mit viel Brot und Beilagen. Valentin blinzelte ihr zu, und sie fragte sich, was sie hier eigentlich suchte.
»Wollen wir mal kurz raus?«, fragte er. »An die frische Luft?«
»Gleich kommt der dritte Gang«, mahnte seine Mutter.
»Bis dahin sind wir wieder zurück!«
Leska