: Durs Grünbein
: Jenseits der Literatur Oxford Lectures
: Suhrkamp
: 9783518753422
: 1
: CHF 26.00
:
: Sprach- und Literaturwissenschaft
: German
: 167
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

In seinen vier Vorlesungen, die er alsLord Weidenfeld Lectures im Jahr 2019 in Oxford gehalten hat, setzt sich der Dichter Durs Grünbein mit einem Thema auseinander, das ihn seit jenem Augenblick beschäftigt hat, als er die eigene Position in der Geschichte seiner Nation, seiner Sprachgemeinschaft und seiner Familie als historisch wahrzunehmen begann: Wie kann es sein, dass DIE GESCHICHTE, seit Hegel und Marx ein Fetisch der Geisteswissenschaften, die individuelle Vorstellungskraft bis in die privaten Nischen, bis in den Spieltrieb der Dichtung hinein bestimmt? Will nicht anstelle dessen Poesie die Welt mit eigenen, souveränen Augen betrachten?

In Form einer Collage oder »Photosynthese«, in Text und Bild, lässt Grünbein den fundamentalen Gegensatz zwischen dichterischer Freiheit und nahezu übermächtiger Geschichtsgebundenheit exemplarisch aufscheinen: Von der scheinbaren Kleinigkeit einer Briefmarke mit dem Porträt Adolf Hitlers bewegt er sich über das Phänomen der »Straßen des Führers«, also der Autobahnen, hinein in die Hölle des Luftkriegs.Am Schluss aber steht eine erste Erfahrung von Ohnmacht im Schreiben und die daraus erwachsende, bis heute gültige Erkenntnis: »Es gibt etwas jenseits der Literatur, das alles Schreiben in Frage stellt. Und es gibt die Literatur, die Geschichte in Fiktionen durchkreuzt.«

ie renommiertenLord Weidenfeld Lectures sind seit 1993 einer der Höhepunkte im akademischen Jahr der Universität Oxford. Dazu eingeladen werden bedeutende Geisteswissenschaftler, Schriftsteller und Dichter. Zu den früheren Inhabern dieser Professur zählen George Steiner, Umberto Eco, Amos Oz und Mario Vargas Llosa.



<p>Durs Grünbein wurde am 9. Oktober 1962 in Dresden geboren. Er ist einer der bedeutendsten und auch international wirkmächtigsten deutschen Dichter und Essayisten. Nach derÖffnung des Eisernen Vorhangs führten ihn Reisen durch Europa, nach Südostasien und in die Vereinigten Staaten. Er war Gast des German Department der New York University und der Villa Aurora in Los Angeles. Für sein Werk erhielt er eine Vielzahl von Preisen, darunter den Georg-Büchner-Preis, den Friedrich-Nietzsche-Preis, den Friedrich-Hölderlin-Prei , den polnischen Zbigniew Herbert International Literary Award sowie den Premio Internazionale NordSud der Fondazione Pescarabruzzo. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachenübersetzt. Er lebt in Berlin und Rom.</p>

1 Die violette Briefmarke


Denke ich an die Briefmarkensammlung meiner Kindheit, fällt mir zuerst ein Detail ein, das einem Traum entsprungen sein könnte, so aufdringlich sticht es hervor und tanzt mir wieder vor Augen, ein kleiner, viereckiger Schmetterling von der Farbe des Vitriol. Es gab da ein Album, gehütet wie ein verbotener Schatz, in dem waren Marken aus der Zeit des Dritten Reiches gehortet, darunter auch eine Reihe verschiedenfarbiger Köpfe des Mannes, dessen Name sich damals nur hinter vorgehaltener Hand aussprechen ließ. Was wußte ich als Kind von dem verfluchten Österreicher, dem Mann aus Braunau am Inn, der sich wie kein zweiter in die deutsche Geschichte eingemischt und eingeschrieben hatte?

Die Wertzeichen im gefährlichsten meiner Alben waren alle verkehrt herum einsortiert. Der finster blickende Volksverführer mit dem streng gescheitelten Haar stand darin kopf. Hatte ich das getan und warum? Ich weiß nicht mehr, war es eine Vorsichtsmaßnahme gewesen, aus Sorge, jemand könnte mein Album entdecken, oder ein Akt der Teufelsaustreibung, diesen Derwisch des Deutschtums so zu enthaupten?

Nur