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Das Zubereiten von Speisen in der Kochgrube ist meinem Großvater zufolge die einfachste und älteste Garmethode der Welt. Man bezeichnet die Grube auch als Erdherd oder Erdofen, und es handelt sich, wie der Name schon sagt, um eine mit flachen Steinen ausgelegte Vertiefung im Boden, in der man die Hitze einschließen und alle Arten von Nahrungsmitteln kochen, backen, räuchern oder dämpfen kann.
Die Lebensmittel – Kartoffeln, Kürbis, Fleisch, was man eben essen möchte – werden direkt auf die Glut in die Grube gelegt und abgedeckt. Dann werden wieder Erde und Steine darübergeschichtet, und alles wird den ganzen Tag gegart. Einmal im Jahr lässt Granddad diese Tradition zusammen mit allen Farmarbeitern aufleben, für gewöhnlich allerdings erst um die Erntezeit und nicht schon – wie jetzt – im Juli. Dieses Jahr macht er es vor allem im Zeichen der Teambildung, wie er es ausdrückt, das heißt, er möchte mit einem gemeinschaftlichen Event unseren Gruppenzusammenhalt stärken. Granddad beschäftigt ausnahmslos Fehlerhafte, und nachdem sie in den letzten Tagen alle die gnadenlosen Suchaktionen der Whistleblower über sich ergehen lassen mussten und die Gilde zurzeit meinetwegen ein ganz besonders wachsames Auge auf Granddads Farm hat, können alle ein bisschen moralischen Auftrieb gut gebrauchen.
Bis vor zwei Wochen wusste ich nicht, dass Granddad Fehlerhafte beschäftigt. Ich erinnere mich nicht, überhaupt je seine Farmarbeiter gesehen zu haben, wenn wir ihn hier besucht haben, und Mum und Dad haben sie nie erwähnt. Vielleicht hatten sie auch die Anweisung, sich nicht blicken zu lassen. Oder vielleicht waren sie immer da, ich habe sie nur genauso wenig wahrgenommen wie die meisten anderen Fehlerhaften – bevor ich selbst eine von ihnen geworden bin.
Ich kann mir jedenfalls gut vorstellen, wie die Kluft zwischen Mum und Granddad dadurch noch tiefer geworden ist. Mum missbilligte Granddads Meinung über die Gilde, das von der Regierung unterstützte Tribunal, das Menschen wegen unethischen, unmoralischen Verhaltens verurteilt. Wir dachten lange, Granddads Tiraden seien weiter nichts als phantastische Verschwörungstheorien, aber wie sich herausstellte, hatte er absolut recht. Und mittlerweile verstehe ich auch, warum Granddad für Mum immer so eine Art schmutziges Geheimnis war. Als prominentes Model war Mum – zumindest äußerlich – die Verkörperung der Perfektion, und obwohl sie überall auf der Welt erfolgreich war, musste sie dafür sorgen, dass ihr guter Ruf auch in Humming erhalten blieb. Dass ihr Vater sich so freimütig für die Fehlerhaften einsetzte, war eine Bedrohung für ihr Image. Das alles habe ich erst in letzter Zeit begriffen.
Manche Arbeitgeber behandeln Fehlerhafte wie Sklaven. Lange Arbeitszeiten, Bezahlung bestenfalls nach den Mindestlohnbestimmungen. Viele Fehlerhafte sind schon froh, wenn sie für Kost und Logis arbeiten dürfen. Dabei sind die meisten von ihnen gebildete, aufrechte Bürger. Sie sind auch keine Kriminellen, sie haben nichts Illegales getan. Sie haben Entscheidungen getroffen, die nach moralisch-ethischen Gesichtspunkten von der Gesellschaft nicht gutgeheißen werden. Und dafür sind sie gebrandmarkt worden. Ich denke, man könnte das mit einer Art öffentlicher Bloßstellung gleichsetzen. Das erklärte Motto der Gilde-Richter lautet:Wir sorgen für Perfektion.
Dahy beispielsweise war früher Lehrer und ist von den Sicherheitskameras in der Schule dabei gefilmt worden, wie er ein Kind etwas grob angefasst hat.
Außerdem habe ich durch all die Geschehnisse der letzten Zeit erfahren, dass die Leute manchmal jemanden bewusst bei der Gilde als »Fehlerhaft« denunzieren. Zum Beispiel, um einen Konkurrenten auszuschalten oder um an jemandem Rache zu nehmen. Menschen missbrauchen das System. Die Gilde ist für Mitläufer und Glücksritter ein wahres Schlaraffenland.
Ich habe eine fundamentale Gilde-Regel missachtet – ich habe einem Fehlerhaften geholfen. Eigentlich steht darauf lediglich eine Gefängnisstrafe, a