: Simone Keil
: Das Mädchen mit dem Porzellangesicht
: Klett-Cotta
: 9783608122909
: 1
: CHF 16.20
:
: Fantastische Literatur
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Noch nie zuvor hat er ein so schönes Mädchen gesehen. Im Mondlicht. Und sie weint...« London, 1888. In einer kalten Novembernacht wird in einem Backsteinhaus in Covent Garden die kleine Miyo geboren. Für ihren Vater, den Puppenmacher Kazuki Kobayashi, ist sie das größte Glück auf Erden. Das Leben könnte wunderbar sein, wenn Kobayashi nicht einst einen Vertrag mit einem dubiosen Advokaten geschlossen hätte, der ihm Wohlstand und Ansehen sichert, sein Kind aber einer ungewissen Zukunft ausliefert... Der Puppenmacher kommt zu dem einzig logischen Schluss: Er muss Miyo verstecken, um ihr Leben zu retten. Dazu fertigt er eine ganz besondere Porzellanmaske an, ein feines, aber regungsloses Gesicht, das er sonst für seine Puppen entwirft. Die Maske soll seine Tochter vor dem Advokaten verbergen. Doch die Ausdruckslosigkeit verdammt Miyo zu einem Leben in Isolation - nur wenige machen sich die Mühe, hinter die kalte Fassade der Porzellanmaske zu blicken. Aber in anderen Außenseitern findet Miyo treue Freunde, die sie auf ihrer abenteuerlichen Flucht vor dem teuflischen Advokaten begleiten. Und endlich findet sie auch die Liebe, nach der sie sich schon immer gesehnt hat.

Simone Keil, geb. 1971, interessierte sich schon als Kind weit mehr für Fantasiewelten und Geschichten als für die Realität. Nach langjähriger Tätigkeit im Vertrieb, schreibt sie nun fantastische Romane für Jugendliche und Erwachsene. Die Autorin lebt mit ihrer Frau und ihrem gemeinsamen Cocker Spaniel in Thüringen.

2


Miss Jennifer May Dunnaby ist die klügste Frau, die Miyo jemals gesehen hat, sie weiß einfach alles. Gebannt hängt sie an Miss Jennys Lippen, als diese von einem fernen Land namens Afrika erzählt, das bevölkert ist von wilden Tieren und wunderschönen Menschen. Würde Miss Jenny einen Penny bekommen für jedes Mal, wenn Miyo ihren Namen sagt, sie wäre bald eine reiche Frau. Aber Mr Kobayashi zahlt ihr auch jetzt einen fairen Lohn. Ein Leben in Abgeschiedenheit als Erzieherin eines kleinen Mädchens ist nicht das, was sie sich vorgestellt hat, als sie sich ihre Zukunft erträumt hat, aber auf jeden Fall besser als in eine Ehe gezwungen zu werden mit einem alten fast dreißigjährigen Langweiler.

Nein, Sir, so sieht ihre Zukunft nicht aus!

Miss Jenny träumt von Reisen und Abenteuern und ist allzeit bereit, ihrer Bestimmung zu folgen. Eines Tages wird ein Luftschiff landen, das einen Platz für sie bereithält. Dessen ist sie sich sicher. Und so ist sie auch allzeit passend gekleidet, in ihr Abenteuer aufzubrechen. Schwere Stiefel, Reithosen, ein weites, weißes Hemd unter einer engen Lederweste mit vielen kleinen praktischen Taschen, am Gürtel links einen Degen, rechts einen Lederbeutel, der Tabak, Pfeife und ein wenig Geld enthält, daneben ein Holster mit Großvater Dunnabys altem Derringer. Holla, Abenteuer, hier bin ich!

Unwillkürlich schließen sich ihre Finger um den Griff des Degens, als sie von einer Safari berichtet, von wilden Löwen und brennend heißer Sonne. Ihre Stimme wird zu einem Flüstern, als der König des Dschungels sich an die schlafenden Menschen heranpirscht, die Muskeln anspannt und …

Miss Whittles stößt einen spitzen Schrei aus und verheddert sich in den Fäden ihrer Stickerei. »Himmel«, sagt sie. Und noch einmal: »Himmel!«

Miyo kichert und Miss Jenny richtet ihre Kleidung, die bei dem lebhaften Vortrag etwas gelitten hat. Womöglich an der Stelle, als sie auf den Schreibtisch geklettert ist, um die Savanne besser überblicken zu können. Sie räuspert sich und sieht auf ihre Taschenuhr.

Miss Whittles entwirrt ihre Stickerei und sich selbst und besinnt sich ihrer Aufgaben. »Oh«, sagt sie. »Es ist schon fast Zeit für den Tee. Was halten Sie von einer Pause, Miss Dunnaby?«

»Ach bitte, nein!« Miyo sieht Miss Jenny hilfesuchend an, aber Miss Whittles erstickt die Revolution im Keim. Den Fünfuhrtee verpasst man nur, wenn man dem Tode näher ist als dem Leben oder die Grenze bereits überschritten hat. Alle Anwesenden erfreuen sich bester Gesundheit.

»Noch dazu«, sagt sie streng, »freut sich Mr Kobayashi darauf, von den Fortschritten deiner Studien zu erfahren, und die Freude möchtest du deinem Vater doch nicht nehmen.« Das ist keine Frage und Miyo schämt sich ein wenig, dass sie so egoistisch war zu vergessen, wie sehr ihr Vater an der gemeinsamen Stunde hängt.

»Nein«, sagt sie kleinlaut. »Gewiss nicht.«

Miss Jenny grinst breit. »Wir werden morgen weiter lernen. Oder vielleicht, wenn Miss Whittles es erlaubt, erzähle ich dir vor dem Zubettgehen, wie die Geschichte ausgegangen ist.«

Miss Whittles seufzt, das grenzt an Erpressung. Wie könnte sie jetzt nein sagen. »Fragen wir Mr Kobayashi«, erwidert sie diplomatisch.

Miyo springt auf und umarmt sie stürmisch. Mr Kobayashi wird ihr diesen Wunsch nicht abschlagen. Das wissen sie beide. »Nun kommen Sie schon, Miss Whittles, lassen Sie uns den Tee zubereiten!« Sie zieht die Haushälterin hinter sich her zur Küche.

Vor dem Fenster singt eine Drossel Liebeslieder, im Wäldchen hinter dem Haus trommelt ein Specht einen forschen Marschrhythmus auf Buchenrinde. Mr Hornsby schneidet die Buchsbaumhecken und pfeift die Melodie eines ganz und gar nicht jugendfreien Trinkliedes, während sein Sohn Max, der eigentlich die Schubkarre aus dem Schuppen holen sollte, sich in der Krone der großen Eiche möglichst klei