Hastig richtete sich das Mädchen im Bett auf. Giselas Blick wanderte zum Fenster. Sie hatte dort eine Bewegung gesehen. Ein Schatten − nichts weiter.
Aber das reichte aus, um Gisela Hoff Angst einzujagen. Es war zu viel passiert in der letzten Zeit. Die Angst und das Grauen gingen um, schlichen lautlos durch die Nacht. Wie der Nebel, der vom Meer hertrieb.
Gisela stand auf. Sie schwang ihre langen Beine aus dem Bett, strich das braune Haar zurück und schlüpfte in die flachen Pantoffeln. Über das lange, durchsichtige Nachthemd streifte sie einen Morgenmantel. Automatisch knotete sie den Gürtel fest, während ihre Blicke keinen Augenblick vom Fenster wegstreiften.
Da − wieder der Schatten!
Ein Gesicht!
Gisela öffnete den Mund, um zu schreien. Plötzlich flackerte Panik in ihren Augen, doch ehe ein Hilferuf über ihre Lippen drang, verzog sich das Gesicht hinter dem Fenster zu einem Lächeln, und Gisela Hoff atmete beruhigt aus.
Das Gesicht kannte sie. Sehr gut sogar. Sie lief hin und öffnete. Der Riegel klemmte etwas, wie immer bei feuchtem Wetter. Doch der junge Mann half von außen nach, und rasch war das Fenster offen.
Gisela Hoff wollte reden, doch der ›heimliche Dieb‹ legte seinen Zeigefinger auf die Lippen und ließ sich kopfüber in das Zimmer fallen. Er war Judoka, rollte sich geschickt ab, stand auf den Füßen und presste, bevor Gisela sich versah, seine Lippen auf ihren Mund und nahm sie fest in die Arme.
Das junge Mädchen drückte seinen Freund zurück. »Ja, bist du denn des Wahnsinns«, flüsterte sie. »Du kannst doch nicht mitten in der Nacht zu mir kommen.«
Hans winkte ab. Er ging zum Fenster und schloss es. Dann drehte er sich um. »Warum nicht?« Er lachte. »Du weißt doch, Liebe überwindet bekanntlich alle Hindernisse.«
»Ach, Hans!« Gisela warf sich in seine Arme. Sie und der junge Mann kannten sich seit gut zwei Monaten und hatten Gefallen aneinander gefunden. Hans Schneider arbeitete als Elektriker bei einer Firma, die ihren Sitz im Ruhrgebiet hatte und an der holsteinischen Küste ein Kraftwerk errichtete. Bei einem Tanzabend hatten sie sich kennengelernt. Gisela war Internatsschülerin und stand kurz vor dem Abitur. Wenn sie ehrlich gegen sich selbst war, dann musste sie sich eingestehen, dass ihr der junge Mann längst nicht gleichgültig war.
Hans setzte sich auf das Bett, und Gisela blieb vor ihm stehen. Der junge Mann lächelte. »Was ist? Willst du dich nicht zu mir setzen?«
Gisela schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann nicht.«
»Und warum nicht?«
»Du musst wieder gehen, Hans!«
Der junge Mann mit den flachsblonden Haaren lachte lautlos. »Wieso denn? Glaubst du, ich hätte den beschwerlichen Weg umsonst gemacht? Nein, jetzt will ich meine Belohnung.«
Gisela schüttelte den Kopf. »Aber du weißt doch, was hier los ist!«
»Du denkst an die Morde?«
»Ja.«
Hans Schneider winkte ab. »Irgendwann werden sie den Täter schon fassen.«
»Das ist kein Täter im normalen Sinne, Hans.«
»Hast du ihn schon gesehen?«
»Nein. Aber die Toten − sie waren schlimm zugerichtet. Es wird sogar die Vermutung laut, dass wir es hier mit einem Tiger oder einem Panther zu tun haben. Jedenfalls habe ich das gehört.«
Hans Schneider tippte sich gegen die Stirn. »Jetzt sag nur noch ein Werwolf, dann fange ich aber an zu lachen.«
Gisela nickte ernst. »Möglich ist alles.«
»Also ich habe keinen gesehen. Und zu dir ins Zimmer wird er nicht kommen.«
»Nein, das nicht.«
Hans schlug sich auf den rechten Oberschenkel. »Wovor hast du dann Angst?«
Gisela Hoff ging trotzdem zu ihm. Sie beugte sich vor, und während Hans’Hände ihre Hüfte umklammerten