: Günter Görlich
: Unbequeme Liebe
: EDITION digital
: 9783965217072
: 1
: CHF 6.40
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 370
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Günter Görlich, ein lebens- und schreiberfahrener Mann, hat immer gern Liebesgeschichten geschrieben. Auch das hier ist eine Liebesgeschichte - allerdings eine über eine 'Unbequeme Liebe'. Was kann an einer Liebe unbequem sein? Was ist da passiert? Thomas schob das volle Schnapsglas fort. Der Wodka roch wie Spiritus. Und noch vor einer Stunde war ihm der Schnaps wie ein Labsal vorgekommen. Er hätte am liebsten das Fenster aufgestoßen, um den dumpfen Schädel im Regen zu kühlen. Blöder Satz: Das Herz ist wie eine offene Wunde. Hartnäckig haftet er im Kopf und ist doch Kitsch. Wieso Kitsch? Man kann diesen Zustand auch so beschreiben: Zwei waren fast drei Jahre zusammen, man sagt, die haben sich geliebt, haben miteinander geschlafen, es war schön und angenehm. Und nun ist alles vorbei. Man ist aber ein moderner Mensch, hat Prinzipien. Es ist eben vorbei, weil eine nicht mehr will, wahrscheinlich ist ein anderer gekommen, und mit dem will sie jetzt. Das ist, nüchtern gesehen, der Sachverhalt. Was hat das Herz damit zu tun? Angefangen hatte alles bei einem Volleyballspiel, bei dem er als Volksarmist auf Urlaub für jemanden anderen einsprang: Die Mannschaft, in die er so kurzerhand eingeordnet worden war, sammelte Punkte. Er beobachtete genau die Spieler auf der anderen Seite. Unter denen war ein blondes Mädchen in einem gelben Bikini; wenn ihr heller Schopf über dem Netzrand auftauchte, war er auf alles gefasst. Auch das Mädchen blickte manchmal prüfend zu ihm herüber. Er merkte sich ihren Namen. Ingrid. Damals hatte er sich in Ingrid, die Pädagogikstudentin, verliebt. Jetzt war es Pfingsten. Pfingstsonnabend. Und der Brief musste geschrieben werden. Sie wollte bei der Wahrheit bleiben. Ja, sie hatte einen neuen. Horlander heißt der. Er ist Schuldirektor und kennengelernt hatte sie ihn bei einer Art zusätzlichen Schulpraktikums. Anfangs gefiel er ihr gar nicht - zumal er ein kleines Kadergespräch mit ihr führte: 'Lohnt sich nicht bei mir', sagte Ingrid, 'sehr durchschnittlich alles. Studiere jetzt bald vier Jahre. Werde wohl, nach meinen bisherigen Erfahrungen in der Praxis, nur die Hälfte davon gebrauchen können. Habe einen Freund mit Motorrad. Nun, das wär's. Vielleicht noch eins: Bin im FDGB, im DTSB, in der FDJ und in der DSF. In den beiden letztgenannten Organisationen habe ich Funktionen.' Ingrid starrte auf den weißen Bogen, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Plötzlich begann sie zu schreiben, so rasch, als hätte sie keine Zeit mehr.

Günter Görlich Geboren am 6. Januar 1928 in Breslau, gestorben am 14. Juli 2010 in Berlin. Ab 1944 Flakhelfer, sowjetische Kriegsgefangenschaft bis Oktober 1949. Bauarbeiter, Volkspolizist. Nach dem Pädagogikstudium war er Erzieher in einem Jugendwerkhof und in einem Lehrlingswohnheim. 1958 erhielt er für sein erstes Jugendbuch 'Der Schwarze Peter' den Jugendbuchpreis des Ministeriums für Kultur. Weitere Auszeichnungen: Kunstpreis des FDGB 1966, 1973 Nationalpreis 2. Klasse 1971 Held der Arbeit 1974 Nationalpreis 1. Klasse 1978 Joh.-R.-Becher-Medaille in Gold 1979 Vaterländischer Verdienstorden in Gold 1979 Ehrenspange zum VVO in Gold 1988 Goethepreis der Stadt Berlin 1983
Während der ersten Wochen im neuen Schuljahr war Ingrid der Kollegin Micke kaum begegnet. Ingrid, die für die Mittelstufe ausgebildet worden war, unterrichtete eine zweite Klasse, allerdings nur vorübergehend, wie Horlander sagte, da jemand ausgefallen sei. Hing diese Einstufung mit Frau Mickes überraschender Rückkehr in den Schuldienst zusammen? Horlander hatte das heftig abgestritten. Und nun war es zu dieser erneuten Auseinandersetzung gekommen. Als sie heute Nachmittag das Lehrerzimmer betrat, saß dort am Konferenztisch Frau Micke. Sie saß sehr aufrecht, eng an die Tischkante gerückt und schrieb. Niemand sonst war im Zimmer. Ingrid zögerte. Aber erst in zwanzig Minuten würde die Turnstunde ihrer Klasse beginnen, die sie besuchen wollte; der Sportlehrer Wagner war einer der wenigen gewesen, die sich ehrlich gefreut hatten, als Horlander sie im Kollegium vorstellte. Als Frau Micke ihren Gruß vernahm, blickte sie auf. Ihre Kopfbewegung war so, als koste es sie Mühe, Ingrid anzusehen. Mit der gleichen angestrengten Bewegung drehte sie den Kopf wieder weg und schrieb weiter. Ingrid zog leise einen Stuhl vom Konferenztisch und setzte sich. Es war ihr, als sei überlaut ihr Atem zu hören. Sie wollte diese Vorstellung abschütteln und legte betont geräuschvoll ihre Kollegmappe auf den Tisch. Warum eigentlich dieses beklemmende Gefühl? Was ging denn von der Frau dort aus? Das wie immer kurz geschnittene, sorgfältig frisierte Haar wirkte wie eine Perücke. Und ihre Haltung am Tisch war so starr, dass es einen erbarmen konnte. War es Mitleid, was Ingrid in diesen Minuten empfand? Oder vielleicht nur Neugier? Sie vertiefte sich in ihre Arbeit, die Durchsicht eines Diktats, das sie aufgegeben hatte und das ihr jetzt als eine zu leichte Aufgabe erschien; sie fand kaum Fehler. 'Man soll Kinder nicht unterfordern', hatte Fred einmal gesagt. 'Besonders in den unteren Klassen. In Mathematik verlangen wir im frühen Schulalter oft weitaus mehr als in der Muttersprache." Ingrid wurde in ihren Überlegungen durch die harten Schritte der Frau unterbrochen, die in ihren hochhackigen Schuhen an dem langen Tisch entlangschritt. Vielleicht noch befangen von ihren versöhnlichen Gedanken, richtete Ingrid ihren Blick offen auf Frau Micke. Der stieg jähe Röte ins Gesicht. Und plötzlich war wieder dieser feindselige Blick in den grauen Augen, der Ingrid damals im Januar so erschreckt hatte. Ingrid spürte, die Frau hatte nichts vergessen, und der Kampf, den Horlander hatte aufnehmen wollen und von dem sie einmal geglaubt hatte, er hätte ihn gewonnen, war nicht zu Ende. Frau Micke sagte: 'Wenn ich recht informiert bin, Fräulein Weidt, sprachen Sie vor Monaten in unserem Lehrerkollegium über Ihren Einsatz nach dem Studium. Wollten Sie nicht in einer Landschule eingesetzt werden? Was hat sie eigentlich von Ihrem Vorhaben abgebracht?' Ingrid wich ihrem Blick nicht aus. 'Es hat sich so ergeben." Jetzt wurde Frau Mickes Gesicht blass. 'Ich habe Sie etwas Konkretes gefragt. Das ist keine Antwort.' 'Auf Ihre Frage ist das meine Antwort.' Frau Micke nahm ihre Handtasche vom Tisch und fingerte unruhig am Bügel. 'Darüber wird noch ein Wort zu sprechen sein. Über das - und über Ihre Moral. Im ganzen Ort wird darüber gesprochen.' 'Wer ist der ganze Ort? Sie?' Die Frau beugte sich ruckartig vor. 'Ich will Ihnen mal sagen, was ich von Ihnen halte. Sie sind ein raffiniertes Luder.' Mit diesen Worten ging sie aus dem Zimmer, leise, als ginge sie auf Zehenspitzen. Ingrid blieb am Tisch sitzen und starrte auf die Hefte. Schließlich stand sie auf und trat vor den Spiegel, der über dem Waschbecken angebracht war. Sie sah, dass sich ihre Augen ein wenig gerötet hatten. Sonst war von ihrer Erregung nichts zu bemerken. In der Turnstunde stellte sie sich abseits und beobachtete wie aus einer weiten Ferne die Übungen der Kinder. Wagner fragte: 'Ist Ihnen nicht gut, Kollegin Weidt? Mir fällt schon seit ein paar Tagen auf, dass Sie schlecht aussehen.' Ingrid erwiderte, dass nichts weiter sei; müde wäre sie, aber das läge daran, dass sie sich an das tägliche Unterrichten erst gewöhnen müsse. 'Also an unserem Klima liegt's, ja? An unserem wunderbaren Schulklima', sagte er und lachte. Sie war noch vor Schluss der Stunde gegangen.