: Günter Görlich
: Die Chance des Mannes
: EDITION digital
: 9783965217027
: 1
: CHF 6.40
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 421
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF
Damals, Anfang der Achtzigerjahres des vorigen Jahrhunderts, als dieses Buch erstmals veröffentlicht wurde, gab es noch Telegramme - Botschaften in Kurzfassung, im Telegrammstil eben. Und es gab noch Räte der Kreise und deren Vorsitzende. Ein solcher ist, im Norden der damaligen Republik, Norbert Weiß geworden. Von dem erhält der Erzähler eben eine solche Bitte im Telegrammstil, die manches sagt, aber eben nicht alles, und die für den Empfänger zunächst rätselhaft bleibt: Muss Dich unbedingt sprechen. Erfolgt keine Absage, bin ich morgen, Donnerstag, den 12. 2., um 15.00 Uhr bei Dir im Institut. Gruß Wolfgang Weiß Der Erzähler und jener Wolfgang Weiß sind alte Bekannte, seit Neunzehnhundertzweiundsechzig oder dreiundsechzig, hatten sich aber lange nicht gesehen. Ihr letzte Begegnung lag fünf oder sechs Jahre zurück, in der Mitte der Siebzigerjahre. Dieses Telegramm beschwört Spannung und Unruhe herauf, und es leitet für den Genossen Karras, Klaus Karras, so der vollständige Name des Erzählers, - und damit auch die Leserinnen und Leser - einen unruhigen und auch aufregenden Zeitabschnitt ein. Da keine Absage erfolgt, trifft Wolfgang Weiß pünktlich auf die Minute, am 12. Februar bei Karras ein. Er trug einen Halbpelz und eine Pelzmütze, der man die Moskauer Herkunft sofort ansah. Der Gast kommt gleich zur Sache und bittet Karras um Hilfe: 'Meine Frau hat mich verlassen. Vor drei Wochen. Ich begreife nicht, warum sie weggegangen ist. Sie ist hier in Berlin.' Diese Frau, das ist Monika Möglin, der sich nach Ansicht von Karras, der einst ihr Mentor gewesen war, eine großartige Entwicklungsmöglichkeit geboten hätte, wenn nicht Weiß ... Das Einzige, was Frau Weiß ihrem Mann beim abschiedlosen Weggang hinterlassen hatte, war ein langer, nachdenklicher Brief, in dem sie schreibt: 'Ich gehe fort, weil ich anders leben will. Bliebe ich hier, wäre eigentlich mein Leben beendet. Vielleicht sind das zu große Worte, ich weiß aber keine treffenderen. Einen anderen Mann gibt es nicht, hat es nie gegeben.' Der Abschied hat auch mit der letzten Silvesterfeier zu tun. Der Ratsvorsitzende und Mann einer 34-jährigen Frau, der immer wenig Zeit hat, kann nicht verstehen, weshalb ihm seine Frau davongelaufen ist - wahrscheinlich für immer. Und er erhofft sich Hilfe von Karras, der zu ihr fahren und für Klarheit sorgen soll. Und der lässt sich hineinziehen in diese Geschichte, sogar tief hineinziehen. Aber erst muss er diese Frau finden, ehe er mit ihr reden kann. Wo ist sie?

Günter Görlich Geboren am 6. Januar 1928 in Breslau, gestorben am 14. Juli 2010 in Berlin. Ab 1944 Flakhelfer, sowjetische Kriegsgefangenschaft bis Oktober 1949. Bauarbeiter, Volkspolizist. Nach dem Pädagogikstudium war er Erzieher in einem Jugendwerkhof und in einem Lehrlingswohnheim. 1958 erhielt er für sein erstes Jugendbuch 'Der Schwarze Peter' den Jugendbuchpreis des Ministeriums für Kultur. Weitere Auszeichnungen: Kunstpreis des FDGB 1966, 1973 Nationalpreis 2. Klasse 1971 Held der Arbeit 1974 Nationalpreis 1. Klasse 1978 Joh.-R.-Becher-Medaille in Gold 1979 Vaterländischer Verdienstorden in Gold 1979 Ehrenspange zum VVO in Gold 1988 Goethepreis der Stadt Berlin 1983
Du hast ein Recht auf Auskunft. Wir haben uns am Königsdenkmal an unseren Abschied vor rund zwanzig Jahren erinnert. Und mit dem Blick auf das Universitätsgebäude fiel mir wieder ein, wie es damals aufgenommen wurde, als ich hier abrupt meine Tätigkeit aufgab, meine Doktorarbeit liegenließ und mit meiner Familie in den Norden übersiedelte, wie dieser Entschluss besonders auf Dich wirken musste. Du hast alles getan, um meine Entwicklung zu fördern. Steine hast Du mir nie aus dem Weg geräumt, aber Du hast versucht zu zeigen, wie ich sie wegräumen könnte. Damals hast Du mich eindringlich nach dem Grund, dem tatsächlichen Grund meines Weggehens gefragt, und ich habe Dir gesagt, dass ich meinem Mann folgte, der im Norden der Republik eine neue und wichtige Arbeit übernehmen solle. Das stimmte, war aber nur eine Teilantwort, die Dich nicht befriedigen konnte. Aber damals konnte ich Dir nicht meinen eigentlichen Grund sagen, ich habe es nicht fertiggebracht. Bis heute habe ich keinem diesen Grund mitgeteilt, auch nicht meinem Mann. Nur einer wird wohl geahnt, nein gewusst haben, warum ich so plötzlich aufhörte. Hellwandt. Die Kapazität, der Mann, der heute noch bekannter ist als damals, ich lese seine interessanten und originellen Beiträge. Du hast mir zu meinem Wechsel in Hellwandts Bereich gratuliert, ich weiß, das hat Dich Überwindung gekostet, und ich habe das verstanden. Es war für mich nützlich, in Hellwandts Bereich überzuwechseln, eine neue Qualität der Arbeit erwartete mich, und meine geplante Dissertation lag in richtigen Händen. Ich muss sagen, es begann gut, ich war zufrieden, und das weißt Du ja auch. Hellwandt beeindruckte mich durch seine Sicherheit, seine Souveränität, seinen freimütigen Spott, die leichte Ironie gefiel mir, die immer bei ihm mitschwang, wenn er es mit mir und meinesgleichen zu tun hatte. Hellwandt hatte Welterfahrung. Er kümmerte sich sehr um mich, der Höhepunkt war, dass ich durch seinen Einfluss Teile meiner entstehenden Arbeit in der Fachzeitschrift veröffentlichen konnte. Als ich Bedenken äußerte, sagte er zu mir: Ihre Arbeit hat interessante Aspekte. Stellen wir sie zur Diskussion. Das kann für Sie nur nützlich sein. Sie wollen doch schließlich mal raus an die Öffentlichkeit. Oder wollen Sie so eine emsige Zubringerin werden, eifrig befasst mit Materialsuche und Zuarbeit? Na, sehen Sie. Also arbeitete ich weiter an meinen interessanten Aspekten. Dann nahm er mich mit zu einer Konferenz nach Leipzig. Dort sollte ich, wie er sich ausdrückte, Mäuschen sein, das internationale Terrain studieren, alles in mich aufnehmen. Die Konferenz sollte vier Tage dauern, und mir fiel es schwer, so lange von zu Hause fortzubleiben. Steffen brauchte mich, er kränkelte oft, und Wolfgang war zu jener Zeit in Karlshorst ziemlich eingespannt. Aber es war schon ein lockendes Angebot für eine Aspirantin. Am zweiten Abend in der Hotelbar sagte Hellwandt mir unverblümt, dass er mit mir schlafen wolle, er erwarte mich in seinem Zimmer. Ich starrte ihn wohl an, als habe sonst wer mit mir gesprochen. Doch neben mir saß der Mann, der mein Mentor war. Und was hatte der gesagt? Hellwandt wiederholte nachdrücklich seinen Wunsch. Genosse Hellwandt, fragte ich, sind Sie verrückt? Ich bin nicht verrückt, sagte Hellwandt, aber du bist ein verteufelt schönes Weib. Wer soll das schon aushalten in deiner Nähe, ohne Wünsche zu haben. Nun mach mal keine Umstände. Wir sind erwachsene Leute. Da stand ich auf und ging. In meinem Zimmer habe ich eine Weile geheult, aber nicht lange. Dann fing ich an, meinen Koffer zu packen, wollte abreisen, sah das als einzig mögliche Konsequenz. Ich packte aber wieder aus, legte mich ins Bett. Warum sollte ich abreisen? Für morgen war ein hochinteressanter Vortrag eines ausländischen Wissenschaftlers angekündigt, der konnte für mich wichtig sein. Im Bett sah ich mir Familienfotos an, so richtige Amateurbilder von Steffen und Wolfgang. Du kennst ja unsere erste kleine Wohnung in Weißensee. Ich habe sie geliebt. Alle Aufnahmen waren auf der Wäschewiese hinter dem Haus gemacht. Wolfgang, den Steffen auf dem Arm, schaut lächelnd in die Kamera, dann ich am Fenster oben in der Wohnung, neben mir der Kleine, um den ich einen Arm gelegt habe, und weil von unten nach oben fotografiert wurde, sieht man besonders deutlich meine recht großen Nasenlöcher. Ich dachte in jener Nacht im Hotelzimmer in Leipzig zärtlich an meine Familie in Weißensee, und der charmante Mann und großartige Plauderer Hellwandt kam mir ein bisschen komisch vor. Ich schlief gut. Am nächsten Morgen duschte ich lange, machte besonders gründlich Toilette, überlegte, was ich anziehen sollte. Vielleicht den schwarzen Rock und eine streng wirkende Bluse? Weshalb aber, was ging mich Hellwandt an? Ich entschied mich für mein schönstes Sommerkleid, das Wolfgang besonders liebte. Und jetzt kamen mir der gestrige Abend und die kurze Episode mit Hellwandt in der Bar ziemlich unwirklich vor, als hätte ich das alles nur geträumt.