Sehr geehrter Herr Schriftsteller!
Mehr als schön ist nichts. Diesen Satz sollen Sie gesagt oder geschrieben oder gesagt und geschrieben haben. Es ist der unmenschlichste Satz, den ich je zu lesen bekam. Ich weiß nicht, wer Sie sind, habe nichts von Ihnen gelesen, aber weil Sie so und so zitiert werden, muss ich annehmen, Sie seien jemand. Also jemand, auf den auch gehört wird. Nur deshalb schreibe ich Ihnen. In der verwegenen Hoffnung, es interessiere Sie, wie, was Sie von sich geben, bei Menschen ankommt.
Ich habe nicht den geringsten Grund, mich schön zu finden, noch nie hat ein Mann oder eine Frau gesagt, ich sei schön, aber noch nie hat jemand gesagt, ich sei hässlich. Wahrscheinlich bin ich unscheinbar. Also ein Weder-noch-Mensch. Also gewöhnlich. Aber: Mehr als schön ist nichts. Also ist schön zu sein das Höchstebeste. Sie haben damit ja nur hingeplaudert, was in jeder Illustrierten und in jeder Fernsehsendung ununterbrochen demonstriert wird: Sie haben eine Allerweltsformel nachgeplaudert.
Mein Gesicht läuft auf ein spitziges Kinn zu. Der Schulkamerad, der deutlich dümmer war als ich, gab mir den Namen Spitzmaus. Deshalb nannten mich Buben und Mädchen dann Spitzmaus. Mein Gebiss ist, wenn Sie das verstehen, prognath. Schauen Sie halt nach, was das heißt. Meine zwei Schneidezähne beherrschen meinen Gesichtsausdruck. Immer schon. Sobald ich lache oder auch nur lächle, weiß ich, dass meine Schneidezähne eine Rolle spielen, die ihnen nicht bekommt. Sie machen mich noch mehr zur Spitzmaus als das auf mein Kinn zulaufende Gesicht. Ich bin also nicht schön. Und: Mehr als schön ist nichts. Diese nicht ganz simple Formulierung hat sich bei mir gleich vergewöhnlicht zu: Wer oder was nicht schön ist, ist nichts. Ich bin also nichts.
Ich wärenichts gewesen, wenn ich mir das hätte gefallen lassen können. Ich habe mich wehren müssen. Ich habe mich gewehrt. Mit Erfolg. Gleich dazugesagt: Das war einmal. Ich bin jetzt 72. Und am Ende. Aber nicht weil ich 72, sondern weil ich am Ende bin.
Ich war erfolgreich. Ich konnte mir viel leisten. Dass ich jetzt am Ende bin … Ach, ich glaube nicht, dass ich Ihnen das mitteilen kann.
Ich werde die Geschichte meines Sturzes noch darzustellen versuchen. Es ist ein überdeutlicher gesellschaftlicher Vorgang und als solcher nicht fähig, sich selber zu erklären. Das, was gesellschaftlich geschieht, hat es nicht nötig, jedem verständlich zu sein. Die Gründe, warum so ein Sturz geschieht, sind Wiederholungen von Klischees, und ich will nicht sagen, dass diese Klischees nichts wert seien, aber es ist nicht ihre Funktion, das zu erklären, was sie angeblich erklären. Klischees sind Masken der Wirklichkeit. Masken, die die Wirklichkeit braucht, damit es so weitergehen kann, wie es weitergeht. Sogar Ihr SatzMehr als schön ist nichts ist nur eine Maske. Allerdings eine, in der das wahre Gesicht, das sie verbirgt, schon fast spürbar wird. Ihr Satz tut ja schön. Tut so, als sei alles wunderbar. Schönheit gilt. Und jeder denkt sofort: Das ist doch besser, als wenn Hässli