: Martin Walser
: Ein liebender Mann
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644000315
: 1
: CHF 10.00
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
«Bis er sie sah, hatte sie ihn schon gesehen. Als sein Blick sie erreichte, war ihr Blick schon auf ihn gerichtet. Das fand statt am Kreuzbrunnen, nachmittags um fünf, am 11. Juli 1823 in Marienbad.» Mit diesen Sätzen beginnt Martin Walsers Roman über Goethes letzte Liebe. Der 73-jährige Geheimrat - seit dem Tod seiner Ehefrau Christiane Witwer und so berühmt, dass sein Diener Stadelmann heimlich Haare von ihm verkauft - liebt die 19-jährige Ulrike von Levetzow. 54 Jahre Altersunterschied trennen die beiden, aber Goethe sagt sich: «Meine Liebe weiß nicht, dass ich über siebzig bin. Ich weiß es auch nicht.» Blicke werden getauscht, Worte gewechselt, die beiden küssen einander auf die Goethe' sche Art. Er sagt: Beim Küssen kommt es nicht auf die Münder, die Lippen an, sondern auf die Seelen. «Das war sein Zustand: Ulrike oder nichts.» Doch sein Alter holt ihn ein. Auf einem Kostümball stürzt er, und bei einem Tanztee will sie ein Jüngerer verführen. Der Heiratsantrag, den er Ulrike trotzdem macht, erreicht sie erst, als ihre Mutter mit ihr nach Karlsbad weiterreisen will. Goethe schreibt die «Marienbader Elegie». Zurück in Weimar, lässt ihn die eifersüchtige Schwiegertochter Ottilie nicht mehr aus den Augen. Martin Walsers neuer Roman erzählt die Geschichte einer unmöglichen Liebe: bewegend, aufwühlend und zart. Die Glaubwürdigkeit, die Wucht der Empfindungen und ihres Ausdrucks - das alles zeugt von einer Kraft und (Sprach-)Leidenschaft ohne Beispiel.

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen. 

2.


Wenn er, 74, sie, 19, heiraten würde, wäre sie, 19, die Stiefmutter seines Sohns August, 34, und seiner Schwiegertochter Ottilie, 27. Mit solchen Rechnungen fand er sich beschäftigt, als er vor dem Frühstückstisch saß, für den Stadelmann jeden Morgen alles, was man sich wünschen darf, aus dem Traiteur-Haus holte.

Stadelmann, den er schon im vergangenen und vorvergangenen Jahr zu einem Stein-Kenner ausgebildet hatte, schickte er heute auf den Wolfsberg, um Augite herauszuklopfen. Auch ein Feldspat-Zwillingskristall wäre hochwillkommen, gab er ihm noch mit. Dem Schreiber John sagte er, dass heute erst um elf diktiert werde. Es hatte sich nämlich Dr. Rehbein angesagt, sein Dr. Rehbein, Hof-Medikus in Weimar, aber auch Arzt Goethes. Und hatte viele Stunden an Christianes Sterbebett verbracht! Noch nicht ein Jahr her, dass Dr. Rehbein die dritte Frau gestorben war. Dr. Rehbein war vielleicht der beliebteste Mann in Weimar.

Als Goethe in dem Zimmer, in dem er Gäste empfing, erschien, kam ihm Dr. Rehbein, der dort gewartet hatte, stürmisch entgegen. Gerade dass er Goethe noch Gelegenheit gab zu rühmen, wie gesund er sich hier fühle, von den Atemwegsmiseren des vergangenen Winters ganz und gar befreit, da sprudelte er los. Er will sich verloben. Er muss. Wenn er sich nicht sofort verlobe, verliere er Catharina, ja, die dreißig Jahre jüngere Catty von Gravenegg. Da er ohnehin dem Herzog habe vorausreisen müssen, bleibe nichts anderes übrig, als die Verlobung hier in Marienbad zu feiern. Das aber ohne Teilnahme des Herrn Geheimrat zu denken sei ihm nicht möglich. Für die unschöne Eile entschuldige er sich. Aber Catty. Sie verstehen. Er kann doch nicht hier der Durchlaucht den Badearzt spielen, was übrigens nicht erlaubt ist, die hiesigen Badeärzte haben das Monopol, gut, ist er eben ein Badegast im Gefolge Seiner Durchlaucht und so weiter, aber hier wochenlang spazierenschauen, und Catty braust durch München, das ist ungesund, also kommt sie, also gibt’s eine Verlobung. Gestehen müsse er aber doch noch, wie es ihn geschmerzt habe, jetzt im Mann von fünfzig Jahren zu lesen, der Chirurg sei der verehrungswürdigste Mann auf dem ganzen Erdboden.

Goethe ergänzte: Er befreit dich von einem wirklichen Übel. Dann umarmte er Dr. Rehbein sanft und sagte ihm fast ins Ohr, die Chirurgen-Rühmung sei doch nötig für die Handlung des Wanderjahre-Romans, zu dessen Bestand Der Mann von fünfzig Jahren gehöre. Und dieser Roman sei, obwohl vor zwei Jahren erschienen, alles andere als fertig. Täglich werde er von Sätzen und Figuren bedrängt, die dazugehören wollen. Und Wilhelm, der Held der Wanderjahre, soll doch, wenn er alle Angebote der Welt studiert und erprobt habe, Wundarzt werden, also Chirurg. Und warum? Weil der Autor seinem ein Leben lang beschriebenen Wilhelm den Beruf auf den Leib und in die Seele schreiben wolle, durch den er den Menschen am meisten helfen könne. Nützen, Herr Doktor. Vom Nützlichen durchs Wahre zum Schönen. Da wollen wir doch alle hin, Herr Doktor. Und hatte ihm gleich noch glaubhaft sagen können, dafür sei er, Dr. Rehbein, selber ein Beispiel. Wer, wie er, ein Arzt, mit fünfzig so wohl, so wirklich schö