: Christian Demand, Ekkehard Knörer
: MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken - 3/2022 Nr. 874, Heft 3, März 2022
: Klett-Cotta
: 9783608118995
: MERKUR
: 1
: CHF 8.10
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 104
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Viel ist derzeit von einer starken Polarisierung, gar Spaltung der Gesellschaft die Rede. Beim Blick auf die Empirie kann Steffen Mau nur konstatieren: Da ist nicht viel dran. Was nicht heißt, dass man nicht soziale Verschiebungen beobachten kann. Etwa die zwischen Stadt und Land, das zeigt Lukas Haffert in seinem Text über 'Die politische Geografie der Bundesrepublik'. Begriff und Tatbestand der Empfindsamkeit haben eine lange Geschichte. Jürgen Große fragt sich allerdings, ob der Diskurs nicht in heikle Formen der Empfindlichkeit umzuschlagen droht. Claudia Hamm hat gerade 'Yoga', den jüngsten Roman von Emmanuel Carrère übersetzt. Sie schildert den Streit um Wahrheit, Fiktion und Lüge, der darüber entbrannt ist. Das neueste Großwerk des Anthropologen Philipp Descola, das bisher nur in französischer Sprache erschienene Buch 'Les formes du visible', hat Oliver Schlaudt schon für uns gelesen. C. Thi Nguyen erklärt, warum Twitter auf großartige Weise Einvernehmen und Nähe herstellen kann - und warum dieser Effekt manchmal nicht weniger radikal in sein Gegenteil umschlägt. Christoph Paret macht sich Gedanken zur Frage, was es heißen könnte, von einer 'Ästhetik der Existenz' zu sprechen. Was kann es bedeuten und wie fühlt es sich an, einen Kinderwunsch zu haben? Holly Melgard stellt dazu nahe- und fernliegende Vermutungen an. Barbara Basting bekommt es mit Globen zu tun, was sie zu Gedanken über die Gegenwart der Kunstförderung motiviert. In Hanna Engelmeiers Schlusskolumne geht es um Blümchen, und um Gewalt.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

DOI 10.21706/mr-76-3-19

LukasHaffert

Die politische Geografie der Bundestagswahl


Wenn an einem deutschen Wahlsonntag um 18 Uhr die Prognose veröffentlicht wird, wachsen auf den Studiobildschirmen der Fernsehsender Balken in die Höhe oder stürzen in die Tiefe. Ob es um das Wahlergebnis, die Gewinne und Verluste der Parteien oder die Präferenzen der Wählerinnen und Wähler in der Kanzler- und der Koalitionsfrage geht – auf fast alle Fragen hat Jörg Schönenborn die Antwort in Form eines Balkendiagramms. Nur die Sitzverteilung wird üblicherweise in der Form einer Bundestagstorte präsentiert.

Der Balken ist die natürliche Darstellungsform des Verhältniswahlrechts, in dem es einzig und allein darauf ankommt, wie viele Stimmen eine Partei erhält. Wo diese Stimmen abgegeben wurden – ob im Norden oder im Süden, in Städten oder auf dem Land –, spielt keine Rolle. Ganz anders dagegen das Mehrheitswahlrecht, in dem es entscheidend auf die Geografie der Stimmverteilung ankommt, weil es nicht darum geht, die Mehrheit der Stimmen, sondern die Mehrheit der Wahlkreise oder Bundesstaaten zu gewinnen. Im Mittelpunkt einer amerikanischen Wahlnacht stehen deshalb Landkarten, in die John King,CNNs spätestens seit dem Auszählmarathon im November 2020 ikonischer Zampano der Zahlen, in irrwitziger Geschwindigkeit herein- und wieder herauszoomt, immer mit der Frage: Wo sind die Stimmen bereits ausgezählt und wo noch nicht? So lernt auch der landesfremde Zuschauer schnell, dass sich die Präsidentschaftswahl in Maricopa County (Phoenix), Wayne County (Detroit) oder Allegheny County (Pittsburgh) entscheidet.

Trotz des unterschiedlichen Wahlsystems gewinnen geografische Darstellungen von Politik aber auch hierzulande an Popularität. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist der enorme Erfolg vonKatapult, dem Greifswalder »Magazin für Kartografik und Sozialwissenschaft«, das mit seinen Kartendarstellungen sozialer Phänomene mittlerweile eine sechsstellige Auflage erzielt. Doch auch in etablierten Medien werden seit einigen Jahren immer häufiger Landkarten eingesetzt, um etwa das Ost-West-Gefäll