Eins
Dienstag, 23. Mai 1967
In die Schlange kam Bewegung, und die Herren in ihren Abendanzügen zuckelten wie die Königspinguine geduldig dem Getränkestand entgegen.
Er würde eine ganze Weile brauchen, um an die Theke zu gelangen, doch das war Preusser völlig gleichgültig.
Er zog eine Schachtel Ernte 23 aus der Innentasche seiner Jacke und zündete sich eine Zigarette an. Seine Hände zitterten stärker als sonst, und er genoss, als er tief inhalierte, den befriedigenden Augenblick des ersten Zugs, bevor er mit geschlossenen Augen den Qualm in die blauen Schwaden blies, die sich im Foyer der Oper ausgebreitet hatten.
Der Abend hatte wundervoll begonnen. Puccinis Musik hatte ihn verzaubert, und er wusste Helga gutgelaunt an seiner Seite.
Es war dann die Arie des Rudolfos, die es auslöste. Während der Strophe, in der es hieß:Denn an ihrer Stelle ist nun süße Hoffnung, war nicht mehr die Stimme des Tenors, sondern waren Ottos Entsetzensschreie in seinen Ohren, gegen die kein Ohrstöpsel half. Die immerwährend gleichen Bilder zogen auf wie ein Gewitter, und vor ihm lag wieder die staubige Straße in die Kriegsgefangenschaft, irgendwo in der Ukraine, irgendwo im Nichts, zwischen abgeernteten Feldern und Büschen. Otto, sein engster Kamerad, der ihm das Leben gerettet hatte, kroch vor dem Panzer davon, die Augen ohne Hoffnung auf ihn, auf seinen Kameraden Joachim Preusser, gerichtet. Dann kamen wie gewohnt die Gesichter der Frauen, die nicht dort hingehörten. Ihre vorwurfsvollen Blicke.
Er hatte sich in seinem Sessel verkrampft und die Lehnen umklammert, hatte versucht, nicht aufzufallen, nicht zu stöhnen, doch erst als Helga seine Hand nahm und sie sanft drückte, hatte er sich beruhigt und verschwitzt den Rest des Akts von Liebe und Glück über sich ergeh