: Patricia Koelle
: Ein Engel vor dem Fenster Wintergeschichten | Winterliche Geschichten
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104901602
: 1
: CHF 7.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Himmlische Geschichten für die Winterzeit Eigentlich glaubt Julius nicht an Engel. Doch dann findet er einen wirklichen vor seinem Fenster. Engel kommen nämlich nicht immer in weißem Gewand und mit Flügeln daher. Manche Engel sind schmutzig. Andere haben gar keine Flügel. Wer tatsächlich noch keinen getroffen hat, kann dies beim Lesen dieser Geschichten erleben.

Patricia Koelle ist eine Autorin, die in ihren Büchern ihr immerwährendes Staunen über das Leben, die Menschen und unseren sagenhaften Planeten zum Ausdruck bringt. Bei FISCHER Taschenbuch erschienen, neben Romanen und Geschichten-Sammlungen, die Ostsee- und Nordsee-Trilogie, die Inselgärten-Reihe sowie die Sehnsuchtswald-Reihe. ?Flaschenpost vom Leben? ist der erste Band ihrer Glückshafen-Reihe.

Cafékalender


Die Frau starrte seit vierzig Minuten die Weihnachtskrippe auf der Kuchentheke an, während das Stück Sahnetorte auf ihrem Teller langsam trocknete. Gelegentlich zog sie graue Luft aus einer Zigarette. Egal, wie geduldig er zu ihr hinübersah, er konnte ihren Blick nicht auffangen.

Das Einkaufszentrum war eine gleißende Insel mitten im Rauschen des Berufsverkehrs. Paul Kiewitz saß in der Eingangshalle im Café Bali und staunte. Seit er nur noch Teilzeit arbeitete, entdeckte er ganz neue Dinge in seiner Welt.

Bisher waren seine Tage im Büro gefangen gewesen, und die knappen Feierabende hatte er dankbar mit seiner Frau auf dem Sofa oder im Garten verbracht. Sicher, sie waren auch mal bummeln gegangen, waren Hand in Hand durch weiche Sommernächte geschlendert und hatten in erleuchtete Schaufensterscheiben geblickt, ohne ernst zu nehmen, was dahinter lag. Jetzt, da seine Rente immer näher rückte, hatte er zum ersten Mal Zeit, nur mittendrin zu sitzen und zu beobachten, was der Alltag durch die Stadt spülte.

Genau genommen war es nicht der Alltag. In dreieinhalb Wochen war Weihnachten, darum huschte die doppelte Menge Menschen durch die Läden. Schwere goldfarbene Kugelketten und erschreckend riesige rote Samtschleifen schmückten Deckengewölbe und Eingangstüren. Wer nicht aufpasste, stieß gegen einen der Weihnachtsbäume, die so zahlreich herumstanden. Doch die Stimmung war erwartungsvoll. Die Kinder zeigten lachend und aufgeregt auf den Teddy, der in einer liebevoll dekorierten künstlichen Schneelandschaft schlief. Die Erwachsenen zeterten nicht wie sonst, wenn sie sich im Gedränge anrempelten, sondern lächelten sich entschuldigend zu. Mit ihren schweren Tüten gingen sie sorgfältig um, da sie darin die Freude trugen, die sie jemandem machen würden.

Völlig anders, stellte Paul fest, war es im Café Bali, obwohl keine Wände es von den fröhlichen Einkäufern trennten. Deren geschäftiger Strom floss zu beiden Seiten an den sauber gedeckten Tischen vorbei, die mitten in der Halle unter drei riesigen Palmen standen. Die geschwungenen Stämme der Palmen waren eng mit zarten Lichterketten umwickelt. Darüber spannte sich ein Glasdach, auf dem die Abenddämmerung lag. Ein schöner Anblick, fand Paul, und auch einige Vorübereilende hielten einen Augenblick inne und blickten andächtig nach oben.

Nicht aber die weißhaarige Frau mit dem angetrockneten Tortenstück. Und auch die meisten anderen Gäste nicht, die an den Tischen saßen wie gefroren. Sie wirkten, als rührten sie ratlose Zeit und klebrige Einsamkeit in ihren Kaffee in der Hoffnung, sie würden darin verschwinden. Viele saßen allein am Tisch, Männer und Frauen jeden Alters. Manche waren auch mit Bekannten da, doch die Männer warfen sich ihr Schweigen gegenseitig zu, während das Kichern der Frauen sich über ihre Traurigkeit legte wie Parfüm