Mit einem flauen Gefühl im Magen fuhr ich Anfang September in Richtung North Carolina. Neben mir saß Lynn mit ihrem schwarzgefärbten, kurzen Haar, das so steif von ihrem Kopf abstand, als hätte sie ihre Frisur aus Draht zurechtgebogen. Kristen war auf der Rückbank meines verbeulten Toyotas in sich zusammengesackt und drückte auf ihrem Handy herum. Ihr langes, glattes Haar fiel als goldener Vorhang neben ihren schmalen Wangen hinab. Ich saß am Steuer und fixierte die kerzengerade Fahrbahn, während der Schmerz in meinem Kopf mit jeder Minute an Intensität zunahm. Sehnsüchtig dachte ich an die Outer Banks, in der Hoffnung, dadurch meine Nervosität lindern zu können. Lynn hatte Recht, wenn sie immerzu behauptete, ich bliebe „das Mädchen aus North Carolina“. Geboren, um an weichen Sandstränden entlangzujoggen, mit dem Geschmack von Salz auf den Lippen und Sandkörnern auf dem Laken, wenn ich abends nach einer Kajaktour erschöpft in mein Bett sank.
„Alles klar, Lisa?“ Lynn legte mir ihre zierliche Hand auf das rechte Knie. Auf jedem Finger, bis auf den Daumen, war ein verschnörkelter Buchstabe tätowiert: L-O-V-E. Ich zuckte zusammen. Seit Wochen war ich übermäßig angespannt. Ein Bogen, dessen Pfeil niemals abgeschossen wurde.
„Geht schon.“ Ich rückte meine Sonnenbrille zurecht, obwohl es nicht nötig war.
„Wir sind an deiner Seite, okay?“ Ich brauchte nicht zu Lynn hinüberzublicken, um zu wissen, dass sie lächelte. Mit diesem Gesichtsausdruck war sie mir an der University of Michigan in Ann Arbor aufgefallen, gleich am ersten Tag. Niemand konnte so lächeln wie sie. Ihre Grübchen verwandelten ihre Mundpartie in ein Wunderwerk aus feinen Schatten auf ihrer Haut. Wäre ich ein Junge gewesen, ich hätte mich sofort Hals über Kopf in Lynn verliebt. Und dass ich nicht lesbisch war, war mir spätestens nach unserer dreiwöchigen Campingtour durch den Norden von Michigan bewusst geworden. Lynn, Kristen und ich in einem Zweipersonenzelt, eingehüllt in eine Duftwolke aus süßem, billigem Parfüm und säuerlichem Schweiß. Haut an Haut im einschläfernden Rhythmus unseres Atems. Jede offen für die Sorgen der anderen, verständnisvoll, niemals urteilend. Wir hörten einander zu, wenn es nötig war, und wenn wir schwiegen, dann war es eine angenehme Stille, die sich niemals sonderbar anfühlte. Es gab keine Freundschaft, die das, was wir hatten, toppen konnte! Jetzt hatten wir unseren Bachelor-Abschluss in der Tasche, und ein neuer Lebensabschnitt würde beginnen. Sobald ich Moms Wunsch, meine Tante Dolores aufzusuchen, nachgekommen war.
„Hast du Angst?“, fragte Kristen unverhofft. Ihre Stimme klang so fern, als wäre sie eben aus einer fremden Welt angereist. Was auch beinahe stimmte, denn ihr Leben spielte sich zum großen Teil auf virtuellen Plattformen ab. Kristen war onlinesüchtig. Sie sagte, sie brauche es, um sich von ihren intensiven Gedanken abzulenken.
„Ich mach mir in die Hose“, sagte ich und schluckte nach einem Räusper-Anfall mit Mühe den Kloß in meinem Hals hinunter, der sich seit Stunden unermüdlich neu bildete. „Was glaubst du denn?“
„Angst lähmt uns nur.“ Kristen klang wie eine steinalte, weise Wahrsagerin mit grauem Haar und einem stechenden Blick, dem man nicht entkam. So eine hatte ich mal auf einem Jahrmarkt gesehen und Kristen mich überredet, sie aufzusuchen. Sie hatte mir gesagt, ich stünde erst am Anfang eines langen, steinigen Weges.
„Hey, da vorne ist ein McDonalds, lass uns anhalten!“ Lynns Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Sie klang aufgeregt wie ein kleines Kind. „Ich hab ein Loch im Bauch.“
„Meinetwegen, aber ich kann nichts essen“, sagte ich und ließ meinen Fuß weiterhin schwer wie Blei auf dem Gaspedal liegen. Das Bild meiner Mutter tauchte immer wieder vor meinem inneren Auge auf, ihr blasses Gesicht zwischen schneeweißen Laken, ihre kraftlose Hand, die wie ein welkes Laubblatt auf meinem Handrücken liegt.
„Also ich könnte auch was vertragen“, sagte Kristen, und somit war ich überstimmt. Zu dritt war die Sache immer einfach. Es gab nie eine Diskussion und immer eine eindeutige Mehrheit, weil jede von uns eine klare Meinung hatte.
Erst als ich auf die rechte Spur wechselte und das Tempo drosselte, merkte ich, wie erschöpft ich war. Nicht nur die Ereignisse der letzten Zeit hatten mich geschlaucht, sondern auch die schlaflosen Nächte, in denen ich gegrübelt hatte, was ich tun sollte.
Ich nahm die Ausfahrt in Richtung des gelben M und parkte meinen