Geschafft!
Mit einem erleichterten Kribbeln im Bauch betrat Camille den Bahnsteig im Gare Montparnasse. In der letzten halben Stunde hatte sie sich durch den Metrodschungel in Paris schlagen müssen, immer in der Angst, den Anschlusszug nach Quimper nicht rechtzeitig zu erwischen. Aber jetzt stand sie hier und sah dem einfahrenden Zug entgegen, der sie in die Bretagne bringen würde. Penmarch, der Zielort ihrer Reise, lag wortwörtlich am Ende der Welt, im Finistère.
Camille freute sich auf ihre drei Freunde, die Gewinner dieser Urlaubswoche, und auf das Meer und den weiten Himmel darüber, nachdem der Sommer in Saarbrücken launisch verlaufen war. An den sonnigen Tagen hatte sie meistens lang arbeiten müssen und an ihren freien Tagen war es trüb gewesen. Höchste Zeit also, Sonne zu tanken, bevor der Winter nahte. Der Atlantik würde ihr genau das bieten, denn man sagte, dass sich Schlechtwetterwolken an der bretonischen Küste nie lange hielten.
In diesem Moment, wo der Wind, der jeden einfahrenden Zug begleitete, ihre Locken tanzen ließ, fiel die Enttäuschung über das saarländische Sommerwetter von ihr ab. Plötzlich fühlte Camille sich lebendig, fast quirlig. Der Zug kam mit ohrenbetäubendem Quietschen zum Stehen, und sie stieg durch die nächstgelegene Tür ein. Die Bahn hatte ihr bei der Online-Buchung empfohlen, für die gesamte Fahrt Sitzplätze zu reservieren, also zog sie nun ihren Trolley auf der Suche nach dem richtigen Platz durch die Waggons hinter sich her. Jedes Mal, wenn sie den Wagen wechseln musste, bockte das unhandliche Ding auf den Übergängen und verursachte auf den klappernden Blechen einen Höllenlärm. Bis heute hatte Camille nicht kapiert, wo sie sich vor der Abfahrt den Wagenstand des Zugs heraussuchen konnte. Nun war es ihr peinlich, dass alle Passagiere sich zu ihr umdrehten, sobald sie einen Waggon betrat. Wahrscheinlich sah man ihr sofort an, dass sie Deutsche war. Ihr Gesicht brannte vor Hitze und Schweißtropfen liefen die feinen Härchen an ihren Schläfen entlang. Aber in Saarbrücken war es an diesem Morgen schon so herbstlich kühl gewesen. Sie hatte einfach nicht damit gerechnet, dass es in Paris noch sommerlich heiß sein würde.
Nervös pustete sie sich die widerspenstige Locke aus dem Gesicht, die wie ein dunkler Schatten immer wieder über ihr rechtes Auge rutschte. Mit ihrer kleinen Handtasche, Rucksack, Trolley und der blöden Softshelljacke war sie hoffnungslos überladen.
Endlich erreichte sie den richtigen Wagen. Sie checkte die Sitznummern – ihr Platz musste sich an diesem Ende des Waggons befinden. Erleichtert atmete sie auf und entdeckte hinter dem letzten Sitz eine Stellfläche für Gepäck, in die ihr Trolley locker noch passen würde. Sie klickte auf den Knopf am Griff, mit dem sie die Doppelstangen einfahren konnte, dann schob sie das Teil in die Lücke hinter dem Sitz. Der Trolley verkantete sich, ragte in den Durchgang hinein und ließ sich nicht mehr bewegen.
„Cavolo“, stieß sie leise aus. Das italienische Schimpfwort würde hier hoffentlich niemand verstehen. Sie bemühte sich, den Trolley mit ihrer freien Hand in die Aufrechte zu bringen. Hinter ihr wartete bereits eine ältere Dame und warf ihr unter einem silbergrauen, streng geschnittenen Pagenkopf ungeduldige Blicke zu. Mit einem weiteren Schnaufen legte Camille ihre Jacke kurzerhand auf dem Schoß des Passagiers ab, der auf dem letzten Sitz saß, und murmelte ihm ein hoffnungsvolles „Pardon“ entgegen. Dessen Haare waren genauso grau wie die der Dame, doch seine Augen strahlten ihr freundlich entgegen, er legte eine Hand auf die Jacke und sagte Camille, sie solle sich Zeit lassen.
Nachdem sie den Trolley mit zwei Händen in der Ecke verstaut hatte, griff sie nach ihrer Jacke, hauchte dem Mann ein „Merci“ entgegen und der Ungnädigen hinter ihr ein „Pardon, Madame“, dann eilte sie davon.
Nur drei Reihen weiter entdeckte sie ihren Platz in einer Vierergruppe mit Tischchen dazwischen. Ihr gegenüber saßen zwei Jugendliche, Kopfhörer auf den Ohren, Smartphones vor den Augen. Sie blickten kurz auf und deuteten ein Nicken an. Irgendwie wirkten sie erleichtert, als sie Camille sahen. Der Platz neben ihr war nicht reserviert. Mit einem Stoßgebet, dass er frei bleiben würde, setzte sie sich ans Fenster, legte ihren Rucksack und die Jacke auf den freien Platz, und schon fuhr der Zug an.
Camille brauchte ein paar Minuten, bis sie sich abgekühlt hatte. Dann stand sie auf, froh und erleichtert, weil sie am richtigen Platz gelandet war, und schob die Jacke in das Gepäckfach über sich. Bestimmt würde sie jet