Kapitel 1
Die Sonne schien durch das Geäst der Bäume und malte blasse Lichtflecken auf die schmale geschotterte Straße. Die Ahornbäume hatten ihre Blütenblätter abgeworfen, und es sah aus, als wäre die Straße ein goldener Pfad, der ins Nirgendwo führte. Seitdem sie von der Landstraße abgebogen war, war sie bestimmt schon zwei Kilometer gefahren, und Charlotte rätselte, ob sie den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Gerade kam sie an einem Schild mit der AufschriftNur für Anwohner vorbei. Das Schild war von Schüssen durchsiebt, als hätte jemand das ganze Magazin seines Jagdgewehrs auf dieses eine Schild abgeschossen. Sehr vertrauenserweckend, dachte sich Charlotte. Nun wurde der Weg – Straße konnte man ihn nicht mehr nennen – noch schmaler, sodass man nur hoffen konnte, keinem anderen Auto zu begegnen! Trotzdem, oder gerade deswegen, erinnerte sie die Umgebung an ein Märchen; gelbe Blütenblätter, die einen goldenen Pfad malten, frisches Grün, welches am Wegesrand wuchs, und irgendwann würde ganz bestimmt der Hof einfach aus dem Nichts auftauchen.
Plötzlich tauchte links von ihr zwar kein Hof, aber ein riesiges Rapsfeld auf, so hellgelb leuchtend im Sonnenschein, dass sie die Sonnenbrille aufsetzen musste. Sie bremste und sah über das riesige, leicht abschüssige Feld hinunter ins Tal. Dort schien es einen Bach oder einen Fluss zu geben, und in der diesigen Ferne konnte man das Dorf erkennen, welches sie vor einiger Zeit bereits durchfahren hatte. Es war nicht besonders groß und strahlte mit den abgeblätterten Hausfassaden einen morbiden, etwas verlebten Charme aus.
Charlotte tuckerte an dem Rapsfeld vorbei und tauchte schließlich wieder in den märchenhaften, einsamen Wald ein. Sie musste sich verfahren haben! Sie bremste abrupt ab und blieb mitten auf dem Weg stehen, um die Wegbeschreibung ihrer Schwester auf ihrem Handy zu suchen.
Babysitter gesucht war der Betreff der ersten Mail.Flipp aus der Betreff der nächsten, und Charlotte erinnerte sich daran, dass ihre Mutter ihre Dienste als Babysitter und Haushälterin verwehrt hatte, als sie gehört hatte, dass sie nicht nur ihre vier quirligen Enkelkinder, sondern auch noch die Pferde versorgen sollte. Charly wusste auch nicht so genau, ob sie dem Job gewachsen sein würde: Während ihre schwangere große Schwester liegen musste, sollte sie einen Hof mit kleinen Kindern, vier Pferden und zwei Hunden versorgen – das hörte sich für einen Stadtmenschen wie sie schwierig an. Aber sie konnte ihre Schwester jetzt nicht hängen lassen, wenn ihr Schwager für fast zwei Wochen eine Dienstreise nach Asien antreten musste!
Noch bevor sie die Anfahrtsbeschreibung gefunden hatte, kam eine neue Mail rein, und automatisch klickte sie darauf. Ihr Kollege und Mitbegründer ihres Fotostudios Athletics hatte eine Mail mit dem BetreffAvas Fotowünsche weitergeleitet.
Himmel, dachte Charly und las, obwohl sie sich vorgenommen hatte, die nächsten vierzehn Tage nicht zu arbeiten.
Ava will fünfzehn Bilder von ihrem Shooting. Kannst du die bitte selbst bearbeiten? Du kennst sie besser!
Wohl wahr. Ava war Pole-Tänzerin und eine Diva vor dem Herrn! Charly hatte sich im letzten Jahr auf Poledance-Fotografie spezialisiert, und die Weltklasse-Tänzerin Ava hätte ihr Durchbruch werden sollen. Hätte. Denn sie hatte die Bilder nicht wie angekündigt in dem großen Bildband verwendet. Vielleicht würde sie es ja jetzt tun.
Doch eigentlich war das ihr Urlaub! Und es war Ostersonntag! Entschlossen wischte sie über das Handydisplay und schaltete die mobilen Daten aus, darum würde sie sich später kümmern.